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Schweden auf Europakurs

Die Amputation des Wohlfahrtsstaates macht Schweden für die EU interessant / Wirtschaft weithin schon EU-angepaßt  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Nördlicher, reicher und vor allem größer wird die EU werden, wenn die SchwedInnen im Sommer bei der Volksabstimmung sich so entscheiden, wie es ihre PolitikerInnen gern hätten. Sind es auch nicht einmal drei zusätzliche Berlins an EinwohnerInnen, die aus dem Norden zur EU stoßen wollen, so ist es an Größe das immerhin fünftgrößte Land Europas. Viel Platz, damit sich dort die KontinentaleuropäerInnen ausbreiten können.

Jedenfalls hat sich, noch bevor die Verhandlungen um den EU- Beitritt losgingen, eine Befürchtung der EU-GegnerInnen bereits bewahrheitet: Schweden ist offenbar dabei, vom Ausland aufgekauft zu werden. Das Land selbst, also Grund und Boden, wie auch die Industrie. Immobilien sind in mitteleuropäischem Vergleich spottbillig. Das haben nicht nur erholungssuchende StädterInnen aus Deutschland, der Schweiz und Dänemark gemerkt, die im vergangenen Jahr je nach Region zwischen 150 und 250 Prozent mehr als im Jahr zuvor an Ferienhäusern gekauft haben. Auch der Markt der Renditeimmobilien in den Großstädten ist für das Auslandskapital interessant geworden, so daß mehr und mehr Büroobjekte in Stockholm, Göteborg und Malmö mittlerweile ausländische EigentümerInnen haben.

Bei den Firmenaufkäufen durch AusländerInnen gab es im letzten Jahr sogar einen Sprung von mehreren tausend Prozent auf einen Wert von etwa 4,5 Milliarden Mark. Erstmals haben sich damit die Kapitalströme, die früher vorzugsweise von Schweden ins Ausland gingen, deutlich umgekehrt.

Nicht nur die kräftig unterbewertete Krone hat Investoren aus den USA, Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden angelockt. Vor allem der Abbau des Wohlfahrtsstaates hat schwedische Arbeitskraft plötzlich billig werden lassen im europäischen Vergleich. Gleichzeitig begünstigt die Steuerreform der bürgerlichen Regierung nunmehr deutlich die Einkommen aus Unternehmensgewinnen und Spekulation. Es lohnt sich, Geld in Schweden zu verdienen und arbeiten zu lassen.

Diese Tendenz zeigt, wie „gut“ es den Regierenden in Stockholm in den letzten Jahren gelungen ist, den Wohlfahrtsstaat zu kappen und das Land auf Europakurs zu bringen. Auch wenn die OECD immer noch nicht ganz zufrieden ist. Vor allem die rekordhohen Staatsschulden müßten angesichts des recht gebremsten Wachstums – ein Prozent wird für 1994 prognostiziert – mit weiteren empfindlichen Schnitten ins soziale Netz abgebaut werden. Und tatsächlich, das letzte Staatsbudget schloß mit einem Defizit von 220 Milliarden Kronen (43 Milliarden Mark) ab, was 15 Prozent des Bruttosozialprodukts entspricht. In Europa gehört Schweden damit in die unrühmliche Spitzengruppe der Länder, denen die Schulden hoffnungslos davongaloppiert sind: Auf mehr als 1.200 Milliarden Kronen beläuft sich mittlerweile die Staatsverschuldung der gerade 8,7 Millionen SchwedInnen. Halten bei den absoluten Verschuldungszahlen noch andere westliche Länder wie Italien und Irland die Spitze, darf sich Schweden der höchsten Steigerungsraten wegen schämen. Für dieses Jahr beträgt das vorveranschlagte Defizit 172 Milliarden Kronen. Bedenkt man, daß im letzten Jahr das Defizit sich von geplanten 42 auf 220 Milliarden hochgeschaukelt hatte, wundert es nicht, wenn auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen von einem drohenden Zusammenbruch der Staatsfinanzen die Rede ist.

Längst Schnee von gestern ist der frühere Stolz Schwedens, die Arbeitsmarktpolitik. Aus der Voll- und Überbeschäftigung ist eine rekordhohe Arbeitslosigkeit geworden. Über 13 Prozent der SchwedInnen stehen derzeit außerhalb des regulären Arbeitsmarktes. Die offizielle Arbeitslosenrate wird durch vielfältige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf acht Prozent gedrückt. Doch mit dem Auslaufen dieser Maßnahmen bei zugleich dürftigen Konjunkturaussichten ist das historische Hoch wohl längst nicht erreicht. Mit 16 Prozent Arbeitslosigkeit wird für dieses Jahr gerechnet, womit sich Schweden an spanische Verhältnisse annähert.

Trotz Rekordverschuldung und hoher Arbeitslosigkeit klopft da kein armes Land an die Brüsseler Tür. Im Gegenteil: Im europäischen Vergleich liegen die SchwedInnen, was ihren Lebensstandard, den Ausbau der Infrastruktur und den Modernisierungsgrad der Industrie angeht, in der Spitzengruppe. 20 bis 30 Milliarden Kronen dürfte Stockholm unter dem Strich jährlich in die EU- Kasse zu zahlen haben – und außer für die relativ kleine Landwirtschaft kaum etwas davon zurückbekommen. Mit weniger als einer Milliarde rechnet die Regierung.

Das ist nicht verwunderlich, bedenkt man, daß selbst Schwedens „Armenhaus“, die Nordprovinz Norbotten, auf einem Niveau von 113 Prozent des durchschnittlichen EU-Bruttosozialprodukts liegt. Mit seiner Wirtschaftsleistung pro Einwohner würde sich Schweden bei einem EU-Beitritt gleich hinter dem Spitzenreiter Luxemburg einordnen können. Die Wirtschaft wird seit Jahren bereits auf EU- Maß gebracht, kommt also mit voller Konkurrenzkraft auf den Europamarkt. Weshalb es auch in Wirtschaftskreisen kaum Zweifel an einem Ja zu einem Anschluß an die EU gibt.

Schon jetzt gehen fast 60 Prozent des Außenhandels in die EU. Die Produkte, die dabei vor allem zählen, sind tatsächlich die, an welche man beim Stichwort Schweden zuerst denkt: Papier und Pappe, Volvo und Saab, Eisenerz aus Kiruna. Gewicht haben aber auch die weniger bekannten Industriezweige, das Land hat in den letzten Jahren eine der bedeutendsten europäischen Arzneimittelindustrien aufgebaut und ist auf manchen Gebieten des Elektronik- und Telekommunikationsbereichs weltweite Spitzenklasse.

Auch wenn der Wohlfahrtsstaat entgleist im Graben liegt, die Volkswirtschaft dampft kräftig auf den Gleisen weiter. Angesichts der Tatsache, daß die SchwedInnen seit Jahrzehnten an 1 statt 16 Prozent Arbeitslosigkeit gewöhnt sind, herrscht dabei eine erstaunliche soziale Ruhe im Land. Noch reicht in den meisten Privathaushalten die finanzielle Decke. doch nur wenige Punkte hinter dem Komma würden genügen, das jetzige Gleichgewicht ins Wackeln zu bringen.

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