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Arrangement sichert die Wahrung der Gesichter

■ Während man in Sarajevo hofft, fürchtet das UNHCR um die übrigen Städte

Rund 200.000 Granaten wurden seit dem 6. April 1992 aus serbischen Geschützrohren auf Sarajevo abgefeuert. Sie brachten 10.000 der ehemals rund 380.000 BewohnerInnen der bosnischen Hauptstadt ums Leben – darunter zahlreiche Serben. Seit der Granate, die heute vor zwei Wochen auf dem Zentralmarkt Sarajevos 68 Menschen tötete, rund 200 verletzte und via CNN das eingeschlafene Weltgewissen wieder weckte, hält ein fragiler Waffenstillstand, durchbrochen lediglich durch einzelne Salven, zumeist aus Gewehren von Heckenschützen.

Seit der gemeinsamen Pressekonferenz des russischen Bosnien- Beauftragten Vitaly Tschurkin mit dem bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić am Donnerstag abend in Karadžićs Hauptquartier Pale herrscht zum erstenmal die Hoffnung, die nun schon fast zwei Jahre andauernde Belagerung der Stadt durch serbische Artilleriegeschütze, Panzer und Mörser gehe endlich zu Ende. Diese Entwicklung – wenn sie denn tatsächlich eintritt – wäre das Ergebnis eines diplomatischen Arrangements, bei dem es allen beteiligten Seiten – den bosnischen Serben, Rußland, den USA, der Nato und der UNO – vor allem um die Wahrung ihrer Gesichter ging. Mit dem Schreiben von Boris Jelzin, das Tschurkin Karadžić überbrachte, erscheint Rußland wieder als aktiver Teilnehmer an den internationalen Bemühungen um eine Lösung des dauernden Bosnien-Konflikts.

Darüber hinaus können sich Jelzin und sein Außenminister Andrej Kosyrew nun rühmen, Luftangriffe der Nato verhindert und den Abzug dieser Waffen mit politischen Mitteln erwirkt zu haben. Das stärkt Jelzins Position gegenüber der nationalistischen Opposition im eigenen Lande. Und Karadžić kann erklären, er habe sich nicht der Nato, sondern dem „Friedensvorschlag“ Jelzins gebeugt.

Tatsächlich aber haben die Nato-Drohungen den Ausschlag gegeben für das Einlenken von Karadžić und seinem Militärchef Radko Mladić. Denn der russische „Vorschlag“ unterscheidet sich in seinem Inhalt in nichts von der Forderung der Nato. Außer daß Moskau zugleich die noch am Mittwoch im UNO-Sicherheitsrat in New York ausdrücklich abgelehnte Entsendung von 400 Soldaten für die Unprofor in Sarajevo angekündigt hat. Doch Hauptsache ist, das Ergebnis stimmt.

Sollten bis zum Ablauf der Frist am Montag morgen um ein Uhr tatsächlich alle schweren Waffen abgezogen sein, wäre die Nato endgültig aus der Verlegenheit befreit, den Beschluß vom 9. Februar über Luftangriffe in die Tat umsetzen zu müssen. Er kam zustande unter dem Eindruck des Massakers vom Zentralmarkt in Sarajevo, das die bis dahin in den meisten Nato-Hauptstädten und insbesondere in Washington verfolgte Linie, sich rauszuhalten, endgültig durchkreuzte. Der Beschluß über Luftangriffe erfolgte in der Hoffnung, ihn nicht umsetzen zu müssen. Deshalb ließen sich die Nato-Kommandeure bei den Beratungen mit ihren Unprofor-Kollegen auch auf deren verwässernde Interpretation einer „Kontrolle“ nichtabgezogener schwerer Waffen ein.

Die schließlich getroffene Vereinbarung, die zahlreiche Ausnahmen für den Verbleib schwerer Waffen in ihren Stellungen vorsah, läßt ausreichend Spielraum, um Sonntag nacht die Feststellung zu treffen, die von der Nato gesetzten Bedingungen seien erfüllt, Luftangriffe daher unnötig. Der Abzug der Waffen würde diese Feststellung allerdings sehr viel überzeugender machen und der Nato ermöglichen, sich ihrerseit im Erfolg der eigenen Entschlossenheit zu sonnen.

Wohin werden die Waffen abgezogen? Wie kann verhindert werden, daß sie möglicherweise außerhalb der 20-Kilometer- Sperrzone an anderer Stelle in Bosnien eingesetzt werden? Und bei einem Nachlassen des weltweiten Interesses und der Unprofor- Aufsicht in Sarajevo in einigen Wochen vielleicht wieder zurückgebracht werden?

Bisher gibt es weder bei der UNO, ihrer Truppe Unprofor noch in den Nato-Hauptstädten eine ernsthafte Befassung mit diesen Fragen. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR drängt, daß zumindest die Versorgungsrouten nach Sarajevo jetzt freigemacht und auf Dauer freigehalten werden. Doch „in Mostar, Srebenica, Tuzla oder Mogloj ist die Situation der Bevölkerung noch viel schlimmer“, erklärte die UNHCR-Sprecherin Sylvana Foa am Freitag in Genf.

Unausgesprochen – das UNHCR äußert sich grundsätzlich nicht zur Frage des Einsatzes oder der Androhung militärischer Mittel – steht hinter dieser Aussage der dringende Wunsch, daß auch die Belagerung dieser Städte jetzt beendet und das Überleben der Menschen durch ungehinderte Hilfslieferungen gesichert wird. Ganz zu schweigen von der ebenfalls im Mai 1993 neben Sarajevo vom UNO-Sicherheitsrat zur „Sicherheitszone“ ausgerufenen Stadt Bihac im Nordwesten. Hier toben bereits seit Tagen schwere Kämpfe zwischen serbischen Truppen, die bei ihren Angriffen Panzer, Artilleriegranaten und die – von der UNO eigentlich verbotenen – Kampfhubschrauber einsetzten und der bosnischen Regierungsarmee. Noch fürchten das UNHCR ebenso wie private Hilfsorganisationen, der Waffenstillstand und das eventuelle Ende der Belagerung Sarajevos könnten eine Eintagsfliege bleiben.

Andreas Zumach, Genf

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