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Praktisch ausgestorben

„London“ – Patrick Keillers literarischer Fußmarsch (Forum)  ■ Von Harald Fricke

Abends im August scheint ganz London in eine Westentasche zu passen: Wenn die Menschen vor den Pubs von Soho mit einem Glas Lager in der Hand betrunken auf dem Gehsteig stehen und den vorbeifahrenden BMWs irgendetwas Unanständiges hinterherrufen — dann gehört alles zusammen. Techno-Sound und funzelige Gaslaternen oder die schlechte Luft und das ölige Leitungswasser in den baufälligen Häuser, die wie faule Zähne dicht gereiht das viktorianisch geordnete Straßenbild rahmen. Selbst Hooligan, Punk und Penner sind ein Teil dieser Postkartenstimmung. Für den Moment jedenfalls.

Obwohl er ganz gerne würde, kommt Patrick Keiller in seiner von Channel 4 produzierten Dokumentation mit diesem London nicht in Berührung. Vor den Pubs ängstigt sich der Dozent für Kunst und Architektur, weil er den Menschen nicht mehr traut. An den neuen Telefonzellen aber vermißt er wiederum eine gewisse hineinurinierte Duftnote des old england, das in der realen Schein-Metropole im ausgehenden 20. Jahrhundert praktisch ausgestorben ist.

Keillers Film-Erzähler erlebt die Fremdheit doppelt. Er ist sieben Jahre auf hoher See gewesen und findet nun den Weg in die Stadt nicht mehr zurück. Ein Freund will ihm mit einem Tagebuch-Projekt helfen: Beide durchwandern ein Jahr lang das London von heute auf der Suche nach der verlorenen Madeleine. Doch auf allen Expeditionen der Flaneure bis zum Flugplatzrasen von Heathrow sind die Risse im Tory-Kapitalismus der konservativen Regierung tief eingeschrieben, die den urbanen Verfall als Druckmittel gegen die Freiheit der Citoyens benutzt. Was auf der Stelle tritt, kann eben nicht fortschreiten.

Obwohl bei Keiller Torpfosten sprechen und Teetassen metonymisch klappern, bleibt doch die Vergangenheit der Dichter und Denker über weite Strecken stumm. Rimbauds Besuche währen nur in dahergesagten Gedichten, aber nicht mehr im Stadtbild; Montaigne ist bloß als Name einer Sprachschule erhalten geblieben und der Zeichner Hogarth muß auf einem Denkmal am Leicester Square ausharren. Der Industrialismus, einmal in Kulturindustrie aufgehoben, läßt die alte Welt allein in den Texten umhergeistern, die Keiller zitiert — etwa in „News From Nowhere“, einer von William Morris 1891 als Utopie des Homespun-Sozialismus geschriebenen Novelle: Erst mit dem Ende der Maschinen kann dort der Mensch seine zweite Natur harmonisch mit der ersten ausleben, um die sich der Film paradox und vergeblich bemüht. Keiller weiß, wie es ums Scheitern einer romantischen City-Culture bestellt ist: Niemals wird man in der Bank of England zu Disco-Musik tanzen können. Dabei muß ihm in seiner gleichzeitigen Zivilisationsscheue und Sehnsucht nach dem Urbanismus zwangsläufig die Perspektive verrutschen: Ein Bombenanschlag der IRA wird mit Magnoliensträuchern kontrastiert, der Caribbean Carnival bleibt als Zeremonie ebenso teleskopisch entrückt wie die Menschen, die zum Guy Fawkes Day ums Freudenfeuer springen. Der Blick, der sich dagegen in den Bildern von Brücken, Parks und Bauzäunen verfängt, wirkt sympathisch, aber letztendlich privat. Und statt des Streichquartetts von Beethoven hätten besser die Beatles von ihrer „Magical Mystery Tour“ gesungen: „Penny Lane is in my ears and in my eyes.“

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