Wachstumswelle auf Öl

Norwegen: Eines der reichsten Länder der Welt kämpft mit der EU um jeden Fisch / Werden die Beitrittsverhandlungen absichtlich verzögert?  ■ Aus Oslo Reinhard Wolff

In Norwegen ist alles anders als im restlichen Nordeuropa. Die Arbeitslosenrate ist einstellig, die Inflation niedrig und Staatverschuldung ein Fremdwort. Die norwegische Regierung kann es sich leisten, in den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union Forderungen zu stellen. Norwegen ist reich, denn Norwegen hat Öl.

Dabei hat auch Norwegen gerade ein Konjunkturtief hinter sich. Das längste und einschneidendste seit dem Weltkrieg, signalisieren die Zahlen. Doch Auswirkungen wie in den skandinavischen Nachbarländern sucht man in Norwegen vergeblich. Das Bruttoinlandsprodukt ist nicht ins Minus geraten, sondern im letzten Jahr gerade nicht im üblichen Dreiprozentrhythmus geklettert, sondern nur um 1,5 Prozent. Die Arbeitslosenrate ist leicht gestiegen, liegt aber immer noch unter sechs Prozent. Dort wird sie auch bleiben, zumindest bis 1995, um dann vielleicht wieder deutlicher absinken zu können, meinen die OECD-Propheten, die im übrigen keinem europäischen Land so gute Zukunftsaussichten attestieren wie Norwegen. Die Inflation hat sich zwischen zwei und drei Prozent gehalten, so daß sich Norwegens LohnempfängerInnen über eine stabile Kaufkraft freuen können.

Eigentlich waren es nur die Banken, an deren Defiziten in den vergangenen Jahren abzulesen war, daß etwas faul ist im Staate Lillehammer. Doch hat auch deren Sanierung durch Staatszuschüsse nicht dazu geführt, daß sich irgendeinE PolitikerIn in Norwegen übertriebene Sorgen wegen der Staatsverschuldung machen müßte. Diese liegt gerade mal bei sieben Milliarden Mark, und wenn die Ölpreise nicht noch weiter in den Keller sinken, kann man in Oslo mit einiger Zuversicht damit rechnen, daß die Versprechung der Regierung, bis 1995 schuldenfrei zu sein, auch eingehalten wird.

Der Ölpreis – er ist es, der mittlerweile fast allein über das Wohl und Wehe der norwegischen Wirtschaft entscheidet. Seit 1970 das erste Öl im Ekofiskfeld, im norwegischen Sektor der Nordsee, gefunden wurde, war das Öl hauptsächlich für Auf und Ab der Wirtschaft auf dem norwegischen Festland verantwortlich. Standen Öl- und Gasexport noch 1992 erst für 35 Prozent des totalen Exportmarkts, wurde im letzten Jahr die 50-Prozent-Schwelle nur knapp verfehlt. In diesem Jahr wird sie vermutlich überschritten. Die einseitige Abhängigkeit vom Öl hat ihre eigene Dynamik erzeugt. Norwegen muß stetig mehr Öl produzieren, um die Einnahmen bei sinkenden Weltmarktpreisen halten zu können, muß ständig neue und teurere Ölfelder erschließen und drückt mit dem Überangebot die Preise noch weiter nach unten. Weltweit drittgrößter Ölproduzent ist Norwegen mittlerweile, hat in den letzten fünf Jahren seine Förderung verdoppelt und plant, dies bis 1997 nochmals zu tun.

Warum soll unser Land eigentlich EU-Mitglied werden? fragt sich da die Hälfte der NorwegerInnen. Eine EU, die nicht nur Teile der so hoch eingeschätzten nationalen Selbständigkeit schlucken, sondern auch noch beim Öl mitquatschen und Fische wegfangen will. Gerade um etwas gegen die Wirkungen der einseitigen Abhängigkeit vom Öl zu unternehmen, antwortet Gro Harlem Brundtland mit ihrer beitrittswilligen Regierung, ohne mit diesem Argument aber großen Eindruck im Volk machen zu können. Noch hat man das Öl, und ein Ende ist für die nächsten Jahrzehnte dank neuer Funde auch nicht in Sicht.

Tatsächlich könnte es sich wohl kein nordisches Land leisten, als einziges draußen vor zu bleiben. Die Natur hat das Land reichlich mit Gaben gesegnet, die derzeit hoch im Kurs stehen. Nicht nur das Öl unter dem Wasser ist damit gemeint, sondern auch das Wasser, das dank steiler Berge von diesen herunterbraust und mit dem sich deshalb billiger Strom erzeugen läßt. Dieser wird entweder gleich als solcher weiterexportiert oder versorgt eine energiefressende Aluminiumindustrie, die mittlerweile den größten Teil der Exporte aus Festland-Norwegen bildet. Und außer dem Öl ist im Meer nach wie vor reichlich Fisch zu finden, der das andere traditionelle Standbein der norwegischen Wirtschaft am Leben hält.

Ein Standbein, das sich in bloßen Zahlen recht schwächlich anhört. Knapp ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts gewinnt das Land aus dem Fischfang, der bei den EU-Beitrittsverhandlungen die absolute Hauptrolle spielt. Nicht einmal 20.000 Fischer leben davon, und auch diese oft nur zum Teil. Weitere 10.000 Menschen sind in der Fischverarbeitung beschäftigt. Doch beim Exportwert steht der Fisch immerhin noch für sechs Prozent – wovon bereits ein Drittel auf Zuchtfisch aus den Fischfarmen entfällt – und ist damit drittwichtigstes Exportgut.

Und Fisch hat Symbolwert. Ohne ihn würde das 4,2-Millionen- Volk der NorwegerInnen einen Teil seiner Identität verlieren. Es ist daher auch durchaus ernst gemeint, wenn der EU-kritische Fischereiminister Jan Henry Olsen in Brüssel verkündet, sein Land, vom Bruttosozialprodukt pro Einwohner her gerechnet europaweit Spitze, habe buchstäblich keinen Fisch zu verschenken.

Doch was nutzt Fisch, wenn man ihn nicht vermarkten kann? Norwegens Fischereiflotte fischt mehr, als man im Lande selbst essen kann. Und seit dem Ausbruch der Martktwirtschaft in Rußland werden die norwegischen Fischverarbeitungsbetriebe der Devisen wegen auch gern von ehedem roten Fischtrawlern mit so viel Rohstoff versorgt, daß mittlerweile die einheimischen Fischer schon protestieren. Diesen Reichtum will und muß man natürlich innerhalb der EU absetzen. Ein Tauziehen um jede Tonne Fisch, die dort von der EU gefangen und hier an die EU verkauft werden darf, zieht daher schon seit Monaten die norwegischen Beitrittsverhandlungen in die Länge: zwischen der Fischereikönigin im Norden und dem Fischkrösus der EU, Spanien.

Bis zu weiteren Knackpunkten ist Norwegen wegen des alles blockierenden Fisches noch gar nicht vorgestoßen. Und da gibt es, ähnlich wie bei den beiden nordischen Nachbarn: die Landwirtschaft, die Struktur- und die Regionalpolitik. Die Landwirtschaft spielt dabei nicht eine so zentrale Symbolrolle wie die Fischerei. Schon jetzt muß sich das Land für seine 9.000 BäuerInnen dumm und dämlich zahlen, um die letzten Reste einheimischer Milch- und Fleischproduktion mit Rekordsubventionen aufrechterhalten zu können. Es war schon immer etwas teurer, die nördlichsten Getreidefelder der Welt nicht veröden zu lassen. Doch wird in Oslo immer häufiger die Frage gestellt, welchen Sinn dieser Luxus haben soll. Darauf, daß sich – mit oder ohne EU – an dieser Landwirtschaftspolitik etwas ändern muß, haben sich Parteien und Bauern mittlerweile grundsätzlich geeinigt. Nur: Es soll möglichst langsam und schmerzlos gehen, der EU-Schock mit langen Übergangsfristen möglichst abgefedert werden.

Das hört sich einfach an, doch der Teufel steckt im Detail. Auch wenn die norwegischen Landwirte alle geltenden Subventionstöpfe der EU vollständig für sich anzapfen könnten, wäre erst ein Bruchteil des jetzigen nationalen Subventionsniveaus erreicht. Weil aber die EU Norwegen kein Beibehalten seiner eigenen Agrarförderung genehmigen kann, fordert das Land faktisch eine völlig Umgestaltung der jetzigen EU-Agrarpolitik. Aus Angst vor Überproduktion kennt Brüssel gerade keine produktionsmengengebundene Agrarförderung. Doch genau das will man in Norwegen als Anreiz haben. Und noch ein neues Kriterium dazu: Belohnung für gute, also naturgemäße Produktion. Auch wenn man in Brüssel bereit zu sein scheint, mit der Einführung einer besonderen Kategorie des „arktischen Landbaus“ den nordischen Beitrittsländern ein gutes Stück entgegenzukommen – den völligen Umbau des empfindlichen Gebäudes Agrarpolitik wird Norwegen kaum erwarten können.

Das Festbeißen an den letzten Details von Regelungen für Fischerei und Landwirtschaft hat Norwegen bei den Beitrittsverhandlungen völlig ins Hintertreffen geraten lassen. Von den 29 Kapiteln, in die Brüssel die Verhandlungskomplexe aufgeteilt hat, konnten Schweden, Finnland und Österreich bereits achtzehn abhaken, Norwegen aber erst zwölf. Wird bei den für Ende Februar anstehenden Verhandlungsmarathons nicht wider Erwarten der große Durchbruch erzielt, kann Norwegen einen gleichzeitigen Abschluß seines Beitrittstauziehens mit dem der übrigen Neulinge vergessen. Doch munkelt man in Oslo, daß dies auch durchaus beabsichtigt ist, was Sinn macht angesichts der Nein-Stimmung im Volk.

Zum einen kann man demonstrieren, daß man sich nicht unter Zeitdruck setzen läßt, wenn es um nationale Interessen geht. Zum anderen käme eine gegenüber Schweden und Finnland zeitlich verzögerte Volksabstimmung den EU-BefürworterInnen in Oslo gerade recht. Sagen die Nachbarn ja, werde sich in Norwegen die Nein- Mehrheit vielleicht doch noch kippen lassen, so das gar nicht abwegige Kalkül.