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Einen Schritt zurück hinter die Fronten

Über den Versuch, den Gebrauch des Mißbrauchs an einem Wochenende zu reflektieren / Metadiskussionen führen selten zu einer Annäherung  ■ Aus Tutzing Ellen Hofmann

Ein Tabu ist gefallen, Verdrängtes ans Licht gekommen. Die Menschen sind verwirrt. Spricht eine Frau zu ihrer Freundin von der Möglichkeit, als Kind sexuell traumatisiert worden zu sein, zeigt sich die Freundin gereizt: „Hör' bloß auf, du nicht auch noch!“ Das andere Extrem: Ein kleines Kind malt einen Schornstein, eine Schülerin lacht nie. Die BeobachterInnen geben Alarm. Denn gerade erst sind wir soweit, daß das Schlagen und Mißhandeln von Kindern nicht mehr allgemein akzeptiert und hingenommen wird.

Inzwischen haben sich Fronten gebildet. Hier die „AnwältInnen der Betroffenen“, da die „VerharmloserInnen“, die nicht mit Bild glauben wollen, daß da 1,2 Millionen Opfer sind. Man spricht nicht mehr miteinander. Wohl aber übereinander, auf allen Kanälen, in jeder Talk-Show. Ein Dialog in diesem Klima? Eine Zumutung. Weiter hilft da nur, einen Schritt zurückzutreten.

Einen Versuch, dem Pro (sexueller Mißbrauch von Mädchen ist allgegenwärtig) und dem Contra (kann doch alles nicht wahr sein) der inzwischen die Betroffenen schädigenden Debatte zu entkommen, wagte die Evangelische Akademie Tutzing am vergangenen Wochenende. Das Interesse der Medien war gering, denn verhandelt wurde nicht das Skandalon „sexueller Mißbrauch“, sondern – so das Tagungsthema – der „Gebrauch des Mißbrauchs“. Die ReferentInnenliste verzeichnete keine ProtagonistInnen der bekannten Lager, statt dessen WissenschaftlerInnen, die sich erst nach der Einladung zur Tagung mit dem Phänomen aus der Sicht ihrer Fachdisziplin befaßt hatten. Geklärt werden sollte, weshalb der Umgang mit dem Thema Mißbrauch problematische Formen angenommen hat, ohne zu verharmlosen und Mißbrauch als unwesentlich abzutun.

Der Philosoph Robert Schurz (Darmstadt) unternahm einen Ausflug in die Rechtsgeschichte. Er untersuchte Mißbrauch als historische Größe: Sklaverei enthalte alle Facetten des Begriffs Mißbrauch, da sie einen Menschen zum bloßen Mittel des anderen mache. Jedoch habe es in der Antike schon den „Mißbrauch des Mißbrauchs“ gegeben – sichtbar am Verbot, SklavInnen mit der Faust zu schlagen, während Schläge mit der flachen Hand gestattet waren. Naturrecht, das Gewaltverhältnisse legitimiert, oder auf Übereinkommen beruhendes positives Recht? Die Ungewißheit der Menschen über ihre ursprünglichen Rechtsverhältnisse als anthropologisches Prinzip des Mißbrauchs? TeilnehmerInnen murrten auf den Fluren, dies sei kein Zugang. Die Abgehobenheit verschleiere, anstatt zu klären.

Als Anregungen verstand Kindheitsexperte Detlef Berentzen seinen Beitrag über die Rolle von Medien, die in Zeiten der Informationsüberflutung bevorzugt mit maximalen Erregungswerten arbeiten, da sich nur so noch massenhafte Aufmerksamkeit erreichen läßt. „Hysterie und Paranoia prägen den Gebrauch des Mißbrauchs, denn die von Gazetten angeführte Zahl von 1,2 Millionen Fällen pro Jahr legt nahe, daß jeder Nachbar kurz vor der Vergewaltigung seiner Tochter steht.“ Das Spektakel werde Mißbrauchsopfern nicht gerecht. Doch nur vielfache Erregung bewege etwas, setze Mittel für Hilfe und Prävention frei. Berentzen kritisierte, daß die „normale“ Mißhandlung von Kindern ohne Erregungswert sei: „Hier herrscht Stille, hier herrscht Akzeptanz.“ Weshalb also erregt die Rede vom sexuellen Mißbrauch so sehr? Sie zerstöre kollektive Phantasien wie die von der Integrität und Sauberkeit der Männer oder die Illusion „wir sind gute Eltern“. Wo aber Identitäten gekündigt würden, entstünden oft paranoide Ängste. Dem und der öffentlichen Erregung habe sich die HelferInnenszene zu verweigern, forderte Berentzen.

Seine Forderung, die Debatte um die Anzahl der Betroffenen einzustellen, wurde indirekt von Maria Kurz-Adam (Deutsches Jugendinstitut) gestützt. Sie hatte sämtliche 282 Erziehungsberatungsstellen in katholischer Trägerschaft befragt und 5.800 Fragebögen ausgewertet. Das Ergebnis sagt, so Kurz-Adam, mehr über die Implikation der empirischen Sozialforschung und über die Probleme der befragten Institution aus als über den sexuellen Mißbrauch.

In eine „seltsam irritierende Welt“ führte der Soziologe Michael Scheschti (Bremen): Zumindest in den USA sei der sexuelle Mißbrauch inzwischen zum Alltagsmythos geworden, der keine Nachfragen mehr dulde und die Geschichte als die des Mißbrauchs von Mädchen lese, sagte Scheschti. Er warnte die HelferInnen vor Illusionen. Die öffentliche und andauernde Thematisierung eines sozialen Problems – und sei es noch so schlimm – gelinge nur, wenn die Bedürfnisse einflußreicher Gruppen erfüllt würden. Beim Mißbrauch seien folgende sozialen Akteure am Werk: Eine weibliche politische Elite, die nach den Niederlagen der Friedens- und Antiatombewegung ein neues, eher zu bewältigendes Arbeitsfeld gefunden habe. Weiter konservative Kreise mit Interesse an der Diskreditierung von Sexualität. Die Politik, weil Probleme von Individuen nicht mehr aus gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie etwa Arbeitslosigkeit erklärt werden müßten. Sodann die Medien und Helfer-ExpertInnen, die legitimerweise auch Arbeitsplätze im Blick hätten.

Viele ReferentInnen hatten erwartet, daß die TagungsteilnehmerInnen ebenfalls Professionelle seien. Es waren jedoch Betroffene dabei – und die spürten den Druck, der aus der distanzierten Betrachtungsweise entstand. In den Pausen, auf Spaziergängen ging es dann doch wieder um den Mißbrauch. Entlastung brachten hier die Arbeitsgruppen. Die einen debattierten das Ende des Patriarchats, andere forderten, auch die Rolle der jetzt sprechenden Opfer müßte die Soziologie zur Kenntnis nehmen. Größten Zulauf hatte die Arbeitsgruppe, die den Umgang mit den Opfern „zwischen Hilflosigkeit und Übereifer“ ansiedelte. Die Pädagogin Christa Wanzeck- Siebert (Dortmund/Soest) stellte einen parteiischen, aber nicht traditionell feministischen Ansatz vor. Sie plädierte dafür, auch die Krise der Helfer mit Gefühlen wie Wut, Ekel, Ohnmacht zu bearbeiten. Plötzliche Rettungsaktionen wie das Entfernen des Opfers aus der Familie lehnte sie ab. Oft fänden sie sich in Heimen wieder, die mit dem Problem nicht umgehen könnten. Der laufende Kontakt mit dem ernst genommenen Kind sei das Wichtigste. So zeigte sich auch auf der Tagung selbst, daß der Mißbrauch beim Reden über das Reden über den Mißbrauch eben nicht auszuklammern ist.

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