: 1.000 Rubel für Madonnas Adresse
Jugend in Moskau: Rock, Mafia und Liebe in Sergej Bodrows neuem Film „Ich wollte Engel sehen“ ■ Von Anke Westphal
„Die Menschen sind gemein zu dir, wenn du anders bist“, findet Bob. Bob trägt Lederjacke und Pferdeschwanz, und sein Lieblingsfilm ist „Easy Rider“. Bob, ein russischer lonely rider um die 20, fährt auf seiner alten Harley-Davidson über schneebedeckte Landstraßen von Saratow nach Moskau. Dort soll er im Auftrag seines Mafia-Bosses töten.
Das Moskau des Underground ist dunkel, kalt und dreckig. Russische Jugend tanzt in einem halbzerfallenen „Kulturpalast“ Pogo. Die Sinnfrage stellt sich hier schon lange nicht mehr; man lebt nach dem „Ich brauche niemanden“- Gesetz. Die Regeln nach dem Zerfall staatlicher Ordnung sind die des Überlebens für den Augenblick: „Gras rauchen“, Geld auftreiben, in Cafés oder an Straßenecken abhängen. Nie wird es hell, und nie wird es warm in diesem Film.
Auch Nat, eine coole Sechzehnjährige, lebt in einem verrotteten Keller, von dem sie glaubt, daß es der Weinkeller Iwans des Schrecklichen war. Das schmale Mädchen ist von zu Hause ausgerissen, nachdem sich sein Bruder umgebracht hat. Nat hat einen Brief an Madonna geschrieben, denn sie will unbedingt nach Amerika, dem Land of The Free. Tausend Rubel würde Nat ihrem Schulkameraden Schenja für Madonnas Adresse zahlen, wenn sie die bekäme. Der Traum vom westlichen Glück jedoch ist viel zu groß für die zu jungen Desperados, die zwischen Ruinen und Verfall einen American Way of Life eher nur simulieren als leben können. „Es ist besser, allein zu sein“, sagt Nat, ein vor der Zeit vergreistes Kind, dessen Gesicht noch unschuldig aussieht, dessen Seele aber zwischen Drogen und Dreck gealtert ist.
Jugend in Moskau, man gibt sich englische Vornamen und tätowiert sich. Man spielt Katz und Maus mit den Bullen und wartet auf eine Chance, die es vielleicht nie geben wird, während Schlagringe und Schnappmesser den Alltag organisieren. Das normale Leben ist aus dem Gleis geraten – no future, und doch verliebt sich Bob in Natascha, als seine Sehnsucht größer wird, als ein leeres Herz es zu ertragen vermag. Eine bittersüße „Boy meets Girl“-Geschichte nimmt ihren Lauf. Daß Bob von jetzt an nicht mehr richtig cool sein kann, kostet ihn später das Leben. Im Kreislauf aus Töten und Verraten gibt es keine Chance für Gefühle.
Schenjas Mutter verrät ihren Sohn an die Polizei, und Schenja stirbt bei der Flucht auf dem Motorrad, das er Bob geklaut hat. Nat wird Bob ebenfalls verraten, wenn sie sich in der Leichenhalle beim Pathologen die Lederjacke des toten Schenja erschläft. Alle sind überhaupt schon zu müde, um noch an etwas zu glauben. Der Traum vom Abhauen nach Süden verglüht in den sinnlosen Toden, die betrogenes Leben beenden. Bob wird erschossen, weil er einen Augenblick lang dem falschen Menschen, ausgerechnet einem Mafioso, vertraut – der einzige Engel, den er sehen wird, ist ein Todesengel. Nat steht zum Schluß an einer Autobahn, die ins Nichts führt. Als ein Laster anhält, weiß sie, womit sie ihren Traum bezahlen soll: mit ihrem Körper.
Sergej Bodrows „Ich wollte Engel sehen“ läßt an der Oberfläche vielleicht nicht viel Platz für Hoffnung. Es ist dennoch ein schöner und sehr trauriger Film über jene völlig unangreifbare Unschuld des Glaubens, die noch in der grausamsten Morbidität einen Platz für Metaphern findet.
„Ich wollte Engel sehen“. Regie: Sergej Bodrow, mit Alexej Baranow, Natalja Ginko u.a. Rußland/ USA 1992, 83 Minuten (OmU). Täglich, 20 Uhr, fsk-Kino, Wiener Straße 20, Kreuzberg
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