Schuhe putzen oder Nägel lackieren

Ein Großteil der Bevölkerung fristet am Rande des Elends sein Leben. Hinter der Maske des Sozialismus lauert die Hoffnung auf den schnellen kapitalistischen Aufschwung. Politische Reiseeindrücke aus Vietnam  ■ Von Ulrich Leidholdt

Auf der Nationalstraße 1 nach Norden – 1.700 Kilometer trennen Ho-Chi-Minh-Stadt im Süden von Hanoi, der Hauptstadt des seit 1975 wiedervereinigten Vietnam. Die Fahrt auf der N1 gleicht einer Zeitenreise. Links und rechts zieht die bewegte Geschichte der letzten vier Jahrzehnte an den Busfenstern vorbei.

Die Hauptverkehrsader des Landes, gerade mal so breit, daß zwei Fahrzeuge aneinander vorbeikommen, erinnert eher an die Bundesstraße 1 zwischen Brandenburg und Potsdam. Die Trasse in Sichtweite des Südchinesischen Meeres besaß vor 25 Jahren eine eminent strategische Bedeutung. Das erfährt der Besucher auf jedem Kilometer. Asthmatisch röchelnde Lastwagen aus dem Nachlaß der US-Army sind als Relikte des Horrorszenarios der Sechziger und Siebziger ebenso präsent wie zahlreiche W-50-Lkws aus der DDR. Ein Rätsel, daß viele der altersschwachen Klapperkisten überhaupt noch rollen. Doch kaum ein Ort, an dem nicht geschickte vietnamesische Mechanikerhände den gesamten Truck in seine Einzelteile zerlegen, um ihn mit selbstgefertigten oder ausgeschlachteten Teilen wieder fahrbereit zu machen.

Begleiterscheinungen einer Mangelgesellschaft. Der Krieg, obgleich vor über neunzehn Jahren mit der Demütigung der Supermacht USA beendet, ist auch im Vietnam 1994 allgegenwärtig. Der Blick aus dem Bus herauf zu den Bergen entlang der Küste ist meist ein Blick ins Leere – öd, zerkarstet, entlaubt die Höhenzüge. Außer dünnen, kniehochkrüppeligen Strünken und Sträuchern wächst dort oben nichts. Auch nach mehr als zwanzig Jahren hält die verheerende Wirkung von Agent Orange unvermindert an. Tonnenweise hatte die US-Luftwaffe das Entlaubungsgift wieder und wieder über dem undurchdringlich-grünen Dach des vietnamesischen Dschungels versprüht. Darunter vermuteten die GIs den Ho-Chi- Minh-Pfad, wichtigste Nachschublinie des Vietcong. Wer heute die Nationalstraße 1 entlangfährt, der sieht keinen Dschungel mehr.

Nach Norden nimmt nicht nur das Grün ab. Sandige unwirtliche Flächen dehnen sich statt dessen immer weiter aus. Wo Bäume fehlen, bleibt auch das Wasser aus. Je weiter es in Richtung Zentralvietnam geht, desto häufiger beherrschen rechteckig von Mauern umschlossene Areale die Wüstenei: weiß, oben gelb abgesetzt, werden die Einfriedungen von einem riesigen Obelisk beherrscht. Um ihn herum verteilen sich gleichmäßig und exakt ausgerichtet schlichte Steinquader – zehn Zentimeter hoch, vierzig breit und sechzig tief. Jeder steht für ein Soldatengrab. Die Steintafeln nennen die Namen der Gefallenen, Geburtsort und -datum, Eintritt in die Armee und Zeitpunkt des Todes. Alle tragen die Aufschrift? „Liet Si“ – Märtyrer. Schmuck fehlt, nur ein paar Räucherstäbchen stecken in Porzellangefäßen. Mal liegen Hunderte, mal Tausende gefallener Nordvietnamesen hier. Großflächige Transparente über den Gräbern verkünden weiß auf rotem Grund: „Das Vaterland gedenkt der gefallenen Helden.“ Auf dem größten, dem Truong-Son-Nationalfriedhof in unmittelbarer Nähe des 17. Breitengrades, sind wenigstens zehntausend Vietcong zur letzten Ruhe gebettet. Unmittelbar an der ehemaligen Teilungslinie zwischen Nord- und Südvietnam liegen jene, die auf dem Ho- Chi-Minh-Pfad gefallen sind, also Vietcong. Friedhöfe gefallener Vietnamesen aus dem Süden existieren nicht, sie sind nach 1975 eingeebnet worden.

Szenenwechsel: die Le-Qui- Don-Straße in Saigon (viele Vietnamesen nennen die Stadt heute noch so). Erst nach einigem Suchen ist hier eine hinter hohen Mauern versteckte alte Villa im Kolonialstil zu finden. Weniger noble Nebengebäude beherbergen das „Museum der amerikanischen Kriegsverbrechen“. Fast verschämt wird hier an die Grausamkeiten der Weltmacht in diesem Land der Dritten Welt erinnert. Bilder, die man selbst schon aus der Erinnerung verdrängt hatte, erstehen durch Fotos, Zeichnungen und Texte zu neuer Realität. Folterungen vietnamesischer Gefangener durch GIs, Vergeltungsaktionen gegen Dörfer vermeintlicher Vietcong-Sympathisanten, Erschießungskommandos. Und dann die furchtbaren Bilder der durch Napalm- oder Phosphorbomben entstellten Opfer unter der Zivilbevölkerung, die Schaugläser mit grotesk entstellten, mißgebildeten Föten – furchtbare Spätfolgen der chemischen Kriegführung.

Verstecken lassen sie sich trotz hoher Mauern und einer geänderten Einstellung zum Gegner der sechziger und siebziger Jahre nicht. Auch wenn es scheint, die Vietnamesen wollten heute am liebsten nichts mehr wissen von diesem Krieg. Niemand verliert ein böses Wort über die USA, der Krieg ist kein Thema mehr. Doch überall in der ehemaligen Hauptstadt Südvietnams und draußen im Land sind seine Folgen anzutreffen.

Da ist die Frau, der beide Beine fehlen, die sich, auf einem primitiven Rollbrett liegend, tagtäglich in Knöchelhöhe ihren erbärmlichen Lebensunterhalt zusammenbetteln muß. Da ist das Mädchen mit dem Holzbein aus einem rohbehauenen Ast, das Getränke anbietet beim tausend Jahre alten Kloster der Cham-Dynastie unweit von Danang. Die Backsteinbauten dienten dem Vietcong als Kommandozentrale. Entsprechend intensiv wurde das Terrain seinerzeit von den Amerikanern bombardiert. Die immer noch schwarz verkohlten Felsen ringsum und das auch hier verkrüppelte niedrige Grün zeugen davon. Die Menschen haben nach dem Krieg mangels anderer Einkommensquellen versucht, mit den gefährlichen Hinterlassenschaften der Bomber ihren Lebensunterhalt ein wenig aufzubessern. Sie suchten nach Metall, nach Blindgängern, Minen, Munition. Auch das Mädchen mit seiner Kühlbox am Wegesrand ist dieses hochexplosive Risiko eingegangen – und hat seine Suche mit dem Verlust des Unterschenkels bezahlt.

Kinder, die betteln oder mit dem Verkauf aller nur denkbaren Gegenstände das Familienbudget aufzubessern suchen, trifft man in Vietnam auf Schritt und Tritt. Mehr als zwei Millionen können deshalb keine Schule besuchen. In einem Land, in dem Monatseinkommen zwischen 15 und 35 Dollar die Regel sind (vorausgesetzt, man hat eine Anstellung – die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent, tatsächlich haben viel mehr keinen Job), zählt auch ein 200-Dong-Schein, umgerechnet drei Pfennige. Postkarten, Joghurt und Obst, Kuchen, Kaugummis und Zigaretten werden Passanten, Bahn- und Busreisenden unablässig zum Kauf entgegengestreckt. Kinder sammeln leere Getränkedosen oder Kronenkorken, um sie gegen ein geringes Entgelt einzutauschen.

Schuhe putzen, Fingernägel lackieren und schneiden heißen die Dienstleistungen, die allenthalben angeboten werden – vor allem den immer noch wenigen westlichen Ausländern. In der Vier-Millionen-Stadt Saigon kommen nicht übersehbar sexuelle Dienstleistungen hinzu – und dabei bieten sich durchaus auch Minderjährige an. Der Markt scheint vorhanden – ein zweites Thailand am Mekong-Delta schon in wenigen Jahren muß befürchtet werden.

Zu den Folgen von Krieg und Sozialismus gehören aber auch jene Kinder, die zerlumpt mit einer verbeulten Blechschale in der Hand an der Uferpromenade in Nha Thrang von Tisch zu Tisch ziehen. Sie haben nichts zu verkaufen. Auch wollen sie kein Geld – sie haben Hunger, bitten um die Reste vom Tisch, um übriggebliebenen Reis, um ein paar Brocken Brot.

Die Wirte sehen angesichts eines vorsichtig aufkeimenden Tourismus mit wachem Auge für jeden Ausländer derlei höchst ungern. Die jungen Bettler werden weggescheucht wie lästige Moskitos. Der Gast aus dem Westen ist peinlich berührt – die Konfrontation mit blankem Hunger neben fangfrischen Riesenkrabben macht hilflos.

Doch nicht nur Kinder kämpfen in Vietnam Tag für Tag um ihren Lebensunterhalt. Vom Staat, der sich noch immer hinter der Maske des Sozialismus verschanzt, hat außer der führenden Kaste des 80- Millionen-Volkes niemand etwas zu erwarten. Sozialismus heißt für die Herrschenden in Hanoi Kapitalismus um jeden Preis: „Hauptsache, wir können unsere Privilegien weiter genießen.“ So wird dem Dollar alles geopfert. Die Heimat der Weltwährung hat sich lange genug gesträubt. „Lift the Embargo Now“ – dieses T-Shirt, von Straßenhändlern ausländischen Touristen für ein oder zwei Dollar angeboten, gehörte im vergangenen Jahr zu den Verkaufsrennern – Ausdruck einer diffusen Hoffnung Fortsetzung auf Seite 24

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eines abgewirtschafteten Sozialismus und seiner Repräsentanten ebenso wie der Leute auf der Straße. Jetzt, nach der Ankündigung Washingtons, das Embargo gegen Vietnam tatsächlich aufzuheben, erhalten diese Hoffnungen auf eine bessere wirtschaftliche Zukunft, auf einen bescheidenen persönlichen Aufschwung neue Nahrung. Spätestens seit Anfang der neunziger Jahre wartet Vietnam auf den lange überfälligen Schritt der USA. Das ungeklärte Schicksal einiger hundert oder auch weniger tausend US-Soldaten hatte bislang als Begründung für die diplomatische und ökonomische Blockade des einstigen Gegners herhalten müssen. Auf vietnamesischer Seite bleiben bis heute 300.000 Soldaten verschollen.

Während die Amerikaner sich in Abstinenz gefielen, streckten die Nachbarn in Südostasien rechtzeitig ihre Fühler aus. Unübersehbar die entsprechenden Werbeflächen in Saigon, aber auch auf dem Lande. Allen voran Japan, aber auch Taiwan und Hongkong haben sich wirtschaftlich bereits einen Vorsprung im Schwellenland Vietnam gesichert. Allerdings profitieren davon bislang nur wenige Vietnamesen. Honda-Mopeds und Sony-Recorder stehen zwar hoch im Kurs, besonders bei Jugendlichen, doch sind sie nur für eine Minderheit erschwinglich. So überschwemmen Erzeugnisse der Unterhaltungs- bzw. Haushaltselektronik zwar die Auslagen des Wirtschaftszentrums Saigon, doch für viele spiegelt das Angebot nicht mehr als eine unerreichbare Glitzerwelt.

Im Alltag bewegen die Menschen ganz andere, existentielle Probleme. Da müssen sie sehen, wie sie mit den Verhältnissen so gut wie möglich allein klarkommen. So auch Tien in Nha Trang. Er baut seine (Über-)Lebensstrategie auf ein geliehenes Cyclo, eine Fahrradrikscha, hierzulande Hauptbeförderungsmittel. Tien ist 36, von 1981 bis 1987 hat er als Vertragsarbeiter in der DDR gelebt, in Leipzig eine Lehre als Dreher abgeschlossen. Seine Rückkehr nach Vietnam erfolgte nicht freiwillig. Er wollte in der DDR bleiben, hatte mit einer Deutschen bereits zwei Kinder. Heiraten wollten sie, doch das verhinderten die DDR- Behörden – die Braut war minderjährig. Zudem ließ sich Tien auf Geschäfte mit Elektronik aus dem An- und Verkauf ein. Die Stasi kam dahinter, Tien hatte seine Aufenthaltsgenehmigung verwirkt. Noch auf dem Flughafen Schönefeld nahmen ihn zwei vietnamesische Geheimpolizisten in Empfang, die internationale Kooperation der befreundeten Dienste funktionierte. Ohne Prozeß folgten eineinhalb Jahre Haft in Hanoi, wobei Tien noch sechs weitere Monate erspart blieben. Seine Kenntnisse als Dreher nutzten ihm heute nichts – eine Mafia verhindere, an eine vernünftige, der Ausbildung entsprechende Anstellung zu kommen, davon ist Tien überzeugt. So leiht er sich ein Cyclo für monatlich fünf Dollar. Neu würde es 250, gebraucht immer noch 150 Dollar kosten. Fährt er mit Touristen einen ganzen Tag lang herum, dann bringt ihm das drei Dollar. Mit diesem und jenem Nebengeschäft kann er zum Monatsende auf 40 bis 50 Dollar kommen. Damit geht es ihm besser als vielen seiner Landsleute. Tien hofft, daß künftig mehr Deutsche nach Vietnam reisen. Dann könnten ihm seine Sprachkenntnisse von Nutzen sein. Viele in Vietnam leben heute vom Glauben an eine bessere Zukunft.

Tien hingegen hat die Hoffnung fast aufgegeben, seine beiden Kinder Jeanet und Doreen, heute sieben und sechs Jahre alt, noch einmal wiederzusehen.