Wunderbare Gefühlswelt

Kinderstimmen und andere Phänomene  ■ Von Gabriele Goettle

Eines späten Nachmittags klingelte mich das Telefon aus tiefer Versunkenheit heraus. Eine muntere Frauenstimme stellte sich als Prof. M. vor. Sie rufe an, weil sie gerade in meinem Buch „Deutsche Sitten“ die Geschichte „Falsch verbunden“ gelesen habe. Darin nun gebe es überaus merkwürdige Parallelen zu einer Geschichte, die sie vor einem halben Jahr erlebt habe. Es folgte eine lange, verwickelte Erzählung, die mir seltsam bekannt vorkam. Sie ging mir den ganzen Abend und auch in den folgenden Tagen im Kopfe herum wie ein Mühlrad. Zunehmend zweifelte ich am Wahrheitsgehalt, an meinem Geisteszustand, an der Existenz der Professorin. Also überwand ich meine misanthropischen Empfindungen und lud sie mit der Bitte ein, mir alles noch mal zu erzählen. Sie sagte ohne jedes Zögern zu.

Am vereinbarten Sonntag nachmittag kam sie tatsächlich, vollkommen pünktlich, eine Frau mit schulterlangen blonden Haaren, Anfang Vierzig, in bunter Strickjacke, Rock und blickdichten Strümpfen. Ohne Tee und Kuchen anzutasten, begann sie zu erzählen:

Das Ganze spielte sich im August 93 ab. Die Schule hatte am 5. begonnen, ich habe ja zwei Kinder, insofern erinnere ich mich genau. Am 9. August also, das war ein Montag, klingelte so gegen 22 Uhr das Telefon, und es meldete sich eine Kinderstimme, die keinen Namen nannte, sondern nur sagte: „Kann ich meine Mama sprechen?“ Und ich erklärte, hier ist deine Mama nicht, hier ist der Anschluß M., wahrscheinlich hast du dich verwählt, sag mir doch mal die Nummer, die du gewählt hast. Alles ganz ähnlich wie in der Geschichte in Ihrem Buch. Sie hatte meine Nummer, es war also klar, da mußte ein Irrtum vorliegen. Wo ist denn deine Mutter, fragte ich, und sie erzählte, die ist zu einer kranken Frau gerufen worden, weil sie Ärztin ist, die Nummer soll ich anrufen, wenn was ist, hat sie gesagt, ich bin ganz alleine zu Hause, jetzt habe ich Angst ... Na, ich versuchte, das Kind zu beruhigen, fragte nach Namen und Alter, und sie sagte, sechs Jahre, ich heiße Sarah und bin gerade in die Schule gekommen, die anderen Kinder haben gelacht, als ich meine Adresse gesagt habe. Ich frage, ja, wieso denn, und sie erklärte, weil die Schule doch genauso heißt wie unsere Straße, Conradschule. Ich plauderte noch eine Weile mit dem Kind, es wurde allmählich müde und war bereit aufzuhängen, wobei ich ihm anbot, falls es ganz schlimm komme, könne es ja wenigstens mich telefonisch erreichen.

Um halb eins in der Nacht klingelte das Telefon. Wieder das Kind, ja, ich bin so allein und trau mich nicht einzuschlafen. Ich fragte, ob denn sonst niemand im Haus sei, nein, sagte sie, da war mal jemand, mein Vater, und mein Bruder David, der immer bei mir gewesen ist, aber die sind gestorben – Sie können sich vorstellen, das nachts um ein Uhr! Ich fragte also nach dem Grund, und sie erzählte, daß Vater und Bruder vor einiger Zeit einen tödlichen Autounfall hatten, daß der drei Jahre ältere Bruder sofort und der Vater zwei Tage später im Krankenhaus gestorben sei. Ein betrunkener Lastwagenfahrer sei frontal aufgeprallt. Ich erfuhr auch, daß der Vater Professor gewesen sei, in einem blau-roten Haus in Charlottenburg. Na, das ist vielleicht die TU, dachte ich. Nach einer Weile war sie bereit, schlafen zu gehen.

Am nächsten Morgen um zehn klingelte das Telefon – es war ja vorlesungsfreie Zeit, und ich konnte zu Hause arbeiten –, eine Frau meldete sich. Damals verstand ich den Namen Kohl. Es war die Mutter des Kindes, die sich herzlich dafür bedankte, daß ich in der vergangenen Nacht so nett mit ihrer Tochter gesprochen hatte. Das mit der Nummer sei ein Übertragungsfehler gewesen, ein glücklicher. Ich sagte, nichts zu danken. Wir haben aufgelegt, und ich dachte, das wars. Doch kurze Zeit später läutete das Telefon, das Kind, ganz außer Atem, es kam gerade aus der Schule, sagte, es wolle mich gerne mal besuchen. Ich hab erst mal geschluckt, dachte, an sich ist das etwas übertrieben. Ich hab mein eigenes Leben, meine eigenen Kinder, aber ich sagte, gut, nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht am Sonntag, gib mir doch mal deine Mama. Ja, das mit Sonntag, das könne man so ins Auge fassen, sagte die Mutter, allerdings, es könne sein, daß was dazwischenkommt, denn – die Tochter habe mir doch sicherlich erzählt, daß sie nur noch eine Niere habe und eventuell zur Nachuntersuchung ins Krankenhaus müsse? Es sei nichts Ernstes, aber sicher ist sicher, fügte sie hinzu. In dem Moment habe ich mich zwar gewundert, aber nicht weiter darüber nachgedacht, was das bedeutet, eine Niere. Dann erbat ich ihre Telefonnummer, falls bei mir etwas dazwischenkäme. 805 23 50. Hier habe ich mirs aufgeschrieben, dann buchstabierte sie mir auch noch den Namen, COHEN, genau wie Leonard Cohen, sagte sie, Conradstraße 2, in Wannsee.

Ich glaube, es war dann am Dienstag abend, das Kind rief an und sagte ganz aufgelöst, ich kann dich nicht besuchen, ich muß wieder ins Krankenhaus. Nun drehten sich alle Gespräche ums Krankenhaus, die Angst davor, Spritzen zu bekommen, brechen zu müssen – übrigens, das mit dem Brechen, das kommt ja bei Ihnen auch vor, im Zusammenhang mit dem Autofahren. Sie hatte eine solche Angst, daß sie mich sogar fragte, ob sie sich bei mir verstecken könne. Ich erklärte ihr, weshalb das ganz unvernünftig wäre. Insgesamt waren das vier, fünf Anrufe, mal von der Mutter, mal vom Kind, alles drehte sich ums Krankenhaus. Es war dann klar, daß die Einlieferung ins Krankenhaus auf den Donnerstag fallen würde, die Mutter informierte mich auch darüber, daß das Kind eine seltene Art von Nierenkrebs habe, also ich kann das jetzt nicht so genau wiedergeben, die medizinischen Begriffe waren mir fremd, sowas geht einer Ärztin ja leicht von der Zunge, ich mußte sie immer bremsen, dazwischenfragen, sie erklärte dann einiges. Diese Nachuntersuchung nun sei schon vor 14 Tagen fällig gewesen, aber sie habe dem Kind die Einschulung nicht verderben wollen, es hätte sich so unbändig auf die Schule gefreut. Aber irgendwie deutete die Mutter schon an, daß es keine Routineuntersuchung werden würde. Diesen Eindruck hatte ich. Wie gesagt, am Donnerstag sollte also die Einweisung ins Klinikum Steglitz erfolgen.

Und so war es dann auch, das Kind rief mich aus dem Klinikum an, beschrieb sein Zimmer, ein Einzelzimmer, offenbar mit Telefon. Ich glaube, an diesem Donnerstag erfuhr ich dann auch, daß das Kind jüdisch ist. In Ihrer Geschichte ist das Kind ja schwarz, nicht? Es ging also um den verstor

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benen Bruder David, der hätte bald auf eine andere Schule kommen sollen, und zwar entweder aufs Braune Kloster oder ins Jüdische Gymnasium, er sei ja auch im Jüdischen Kindergarten gewesen. Ich sagte: Jüdischer Kindergarten? Ja, sagte sie, irgendwie vorwurfsvoll, hast du denn nichts gemerkt? Der Name Cohen ist doch ein jüdischer Name. Na wissen Sie, ich bin da ganz leidenschaftslos, darüber habe ich nicht nachgedacht, ist auch nicht naheliegend. Sie erzählte mir dann, der Vater sei Jude – gewesen –, und die Großmutter lebe in Jerusalem, zu Besuch sei sie auch schon mal dort gewesen. Das war also die Sache mit dem Judentum und dem Braunen Kloster. Ich weiß nur noch, ich dachte, logisch, die Eltern haben überlegt, soll der Sohn nun Griechisch und Latein lernen, was er ja bei einem späteren Dissertationswunsch benötigt, oder soll der Schwerpunkt mehr im Hebräischen liegen, das ist sicher schwer zu entscheiden. Und dann gabs weitere Gespräche über Vater und Bruder, in denen erfuhr ich dann auch, daß beide auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof begraben liegen – auf dem ja auch Willy Brandts Grab ist. Wir sprachen über Lieblingsblumen, und ich höre es noch genau, wie sie sagte, ihre Lieblingsblumen seien „Stiefmütterchen“. Ach, da war so viel, was sie mir erzählt hat in diesen Tagen, daß es jetzt schwer ist, nichts zu vergessen. Jedenfalls, sie bat mich an diesem Donnerstag, ob ich ihr nicht einen Brief schreiben könne ins Krankenhaus, in schönen großen Buchstaben, und bitte, ganz schöne Briefmarken aufkleben! Das hatte mich veranlaßt, eilends zur Post zu gehen und besonders schöne Briefmarken zu besorgen. Ich schrieb einen kurzen Brief, und währenddessen sollte eine kleine Operation stattfinden, bei der gewisse Gewebeproben ... jedenfalls nichts Ernstes. Ich warf den Brief am Abend ein, und am Freitag morgen rief die Mutter an, sagte, es hätte sich eine Sepsis gebildet, das Kind habe Fieber und brauche Ruhe – also auch keine Besuche –, was ich natürlich sofort akzeptierte. Das Kind rief auch an, und es hechelte in einer Weise, daß zu spüren war, es ist ein sehr krankes Kind, das alle seine Kräfte zusammennimmt – entsprechend mütterlich und liebevoll habe ich mich dann auch verhalten, und im Grunde jedes Gesprächsthema akzeptiert. Es waren viele kurze und etwas längere Anrufe, auch abends, so bis 23 Uhr etwa. Wir machten beispielsweise Rechenspiele, im Zehner-Bereich, das war für sie kein Problem, nur bei den Minusaufgaben mußte sie etwas länger überlegen. Wir haben auch darüber gesprochen, daß, wenn sie wieder zu Hause ist, endlich der Besuch bei mir nachgeholt wird und daß sich mein jüngerer Sohn – er ist neun und heißt Bennet, der ältere, Simon, war ja damals schon 16 –, daß sich Bennet also schon freuen würde auf sie. Und sie fragte mich: Hast du denn keinen Mann, und ich sagte, ja, aber sicher hab ich einen Mann, aber der muß in einer anderen Stadt arbeiten, so daß wir uns alle, also die ganze Familie, immer nur an bestimmten Wochenenden und in den Ferien zusammenfinden. Und ob ich auch ein Auto habe, ja, sagte ich, auch ein Auto hab ich, und das war ganz putzig, weil sie mir sagte, daß bei ihrem Auto die Nummer so anfinge wie auch die Mama heißt, B-C, Barbara Cohen. So haben wir quasi den Freitag verbracht, mit solchen Gesprächen. Ich sagte ihr dann auch noch, daß ich am Samstag leider nicht zu Hause wäre, weil ich mit meinen Kindern zum Segeln fahren würde, hab ihr vorher schon erzählt von unserem Segelboot und daß die Kinder, jetzt, wo es so warm ist, viel draußen auf Schwanenwerder in unserem Verein seien. Das war also der Freitag.

Am Samstag morgen kam mein Brief an sie zurück, mit dem Stempelvermerk, der Empfänger sei unbekannt. Ich ärgerte mich sehr, schließlich hatte ich mir enorme Mühe gemacht damit.

(Die Professorin nimmt ein graues DIN-A5-Kuvert aus ihrer Tasche, deutet auf die drei farbenfrohen großen Marken und die durchgestrichene Anschrift, zeigt den Brief, der mit ausgeschnittenen Fotos von ihr und ihrem Jüngsten verziert ist, umrahmt von freundlichen Worten in Großbuchstaben.)

Ich habe also meine Kinder zum Segeln rausgefahren, ihnen die Sache erklärt und bin dann zurückgefahren, um den Brief selbst im Krankenhaus abzugeben, dachte, das arme Kind wartet so, und ich habs ja hoch und heilig versprochen. Und die Kinder segeln ja auch ohne mich wunderbar. Das Wochenende war sehr warm, ein schönes Wochenende, und ich fuhr zum Klinikum, aber nichts war zu machen, an der Pforte, auf der Station, nirgendwo war was zu erfahren, man sagte mir, wenn jemand über die Notaufnahme zum Beispiel reinkommt, dann ist er nicht im Computer, dann war sie ja verlegt worden, ich ging sogar zur Chirurgischen Intensivstation, vergeblich. Also ging ich wieder, es war mir auch der Gedanke peinlich, vielleicht zufällig der Mutter zu begegnen, die mich ja gebeten hatte, das Kind nicht zu besuchen.

Und dann am Sonntag, da sagte mir das Kind ganz aufgeregt, du, dein Brief ist nicht angekommen, und ich erklärte, daß er zurückgekommen ist zu mir, weil der Postbote im Krankenhaus dich nicht finden konnte. Damit hat sie sich zufriedengegeben. Von meiner Suche nach ihr sagte ich ihr nichts. Ja, und sie erzählte mir dann, daß sie erbrochen habe, und – jetzt kam eine neue Information – die Mama sei rausgelaufen aus dem Zimmer, weil sie ja schwanger ist und sowas nicht sehen könne. Ich dachte, noch ein Schicksalsschlag, gut, es hält andererseits die Frau vielleicht auch ein Stück aufrecht, da ich ja wußte, der Papa ist im März verunglückt, das wird also nur mal so gerade vor dem Unglück passiert sein, und tatsächlich, die Mutter sagte mir später am Telefon, sie bekäme im November ihr Kind. Sie sagte mir auch noch, daß man ein Versagen der einen, übriggebliebenen Niere befürchten müsse, daß Sarah einen Dauerkatheter gelegt bekommen hätte und sie darüber ziemlich traurig sei. Das Kind selbst hat mir nur gesagt, weißt du, ich hab da jetzt so eine Tüte, in die der Pipi reinläuft.

Am Montag erzählte mir das Kind, daß nun doch noch mal operiert werden muß, es Angst davor hat, ja, und es soll am Mittwoch sein. Die Mutter wiederum bei ihrem Anruf berichtete, daß die ganzen Werte gar nicht gut aussähen und die Operation deshalb so bald wie möglich gemacht werden müsse, was das Kind aber nicht wisse. Ein netter Anästhesist habe die Kleine mit viel Mühe von der Notwendigkeit des Operierens überzeugen müssen. Am Mittwoch, frühmorgens um sieben, rief mich das Kind an, schon mit schwacher Stimme, es habe gerade eine Spritze bekommen – das kannte ich ja auch von den Polypen meines Sohnes, daß man vorher diese Spritze bekommt – das war also gerade geschehen, und nun sollte es gleich losgehen. Ich sagte allerhand Beruhigendes, und mir schien, sie war dann ganz gefaßt. Wir saßen beim Frühstückstisch, ich und meine Kinder, haben auch mitgezittert – der Große vielleicht nicht so, der hatte schon bei der Schwangerschaft der Mutter etwas genervt gesagt: Das sind aber viele Schicksalsschläge. Na ja, man wartet und Sie beschreiben das ja auch, daß man eigentlich nicht arbeiten kann mit dem Kopf. Der Anruf kam relativ spät, so gegen halb zwölf, die Mutter sagte, nun sei die Operation vorüber, es habe lange gedauert und Komplikationen gegeben, unter anderem einen Herzstillstand. Sie warte jetzt, daß die Tochter aus der Narkose aufwacht, es müsse jeden Moment soweit sein und sie wolle dann am Bett stehen, darum die Kürze des Anrufes. Um ein Uhr dann kam ein weiterer Anruf: Ich wollte Ihnen nur sagen, daß meine Tochter tot ist, sie ist soeben verstorben. Na, ich war wie versteinert, forschte in meinem Kopf nach Worten, die ich ihr hätte sagen können. Ich sagte dann so das Übliche, sie war irgendwie sehr ruhig und sachlich, ich dachte mir, wenn jemand soviel hintereinander erlebt hat, der schottet sich ganz ab, sonst wird er verrückt. Sie erklärte, der Krebs sei in einem solch fortgeschrittenen Stadium gewesen, daß die Konstitution des Kindes schon ganz geschwächt gewesen sei und fügte hinzu: Aus und vorbei! Sie wolle zuerst mal zu einer Freundin gehen und dort bleiben.

Am nächsten Tag kam ein Anruf von ihr, die Beerdigung sei auf den 1. September festgelegt, finde auf dem Waldfriedhof Zehlendorf statt. Sie bat mich hinzukommen und am Grab etwas vorzulesen, von Marie-Luise Kaschnitz – der Titel war glaube ich: „Einst waren wir Kinder“ – kenne ich nicht. Zuerst dachte ich, gut, das machst du, dann aber stellte ich mir das vor, der Kindersarg, bestimmt würde ich weinen müssen, also habe ich abgelehnt, mein Kommen aber natürlich zugesagt. Beim nächsten Anruf äußerte sie dann den Wunsch, mich kennenzulernen. Wir gingen mehrere Termine durch, mal gings bei mir nicht, mal bei ihr, endlich fand sich ein Dienstag, das war der 24. August. Um 18.30 Uhr wollte sie zu mir kommen, vorher hatte ich einen Termin mit einer Studentin.

Wie ausgemacht, kam sie um halb sieben, an jenem Dienstag, die Studentin war noch da, ging aber gleich. Ich war von der Frau, die da hereinkam, sehr irritiert, weil ersten hab ich auf alle Fälle gedacht, sie käme in Schwarz oder zumindest in gedeckter Kleidung, und – ja – die Gattinnen meiner Kollegen sehe alle ganz anders aus, und auch von der Sprache am Telefon her hatte ich mir ein ganz anderes Bild gemacht. Ich dachte eben, ja, sie ist eine Frau, so Mitte Dreißig, irgendwie zierlich, gepflegt. Es kam aber eine sehr korpulente Frau. Gut, sie war schwanger, aber andere Frauen haben dann diesen Kugelbauch und sind sonst wie immer, ja, dann trug sie mittelblaue Stretchhosen, sehr eng, darüber ein T-Shirt und solche Schlappen. Die Haare irgendwie kurz, aber nichts, was man eine Frisur hätte nennen können. Der ganze Typus war irgendwie farblos und plump, also, sie war irgendwie insgesamt... äh... eben doch, ja, wie soll ich sagen, nicht das, was man sich unter einer praktizierenden Ärztin vorstellt. Und das ganze Gespräch war auch irgendwie peinlich. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Sie holte ein Foto aus der Tasche von der Tochter, es war ein Kind abgebildet, recht zierlich, mit halblangen blonden Haaren, in relativ leichter Kleidung. Das sei im Mai gemacht worden, sagte sie. Und nun sprachen wir über das Kind, seine Intelligenz und Freundlichkeit. Es habe so am Vater gehangen, dann kam sie auf das Ungeborene zu sprechen, es werde ein Junge, den sie Simon nennen wolle, der Name gefalle ihr sehr gut – Simon heißt auch mein Ältester – ja, und daß eben nun alles aus und vorbei sei und nichts mit einer Familie. Es dauerte geschlagene sechzig Minuten, bis sie wieder ging. Ich war froh, als sie fort war, sie war mir überhaupt nicht sympathisch. Es

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lagen einfach Welten zwischen meiner Beziehung zum Kind und zu dieser Frau. Während so am Telefon, da war sie immer ganz sympathisch in dem, was sie sagte und wie sie es sagte, das klang alles durchaus gebildet. Von einer solchen Ärztin stellt man sich aber nicht vor, daß sie nach dem Tod ihres Kindes in bunten Sachen herumgeht, die billig bei Woolworth oder Bilka gekauft sind.

In dieser Woche hörte ich dann nichts mehr von ihr. Ich habe nachgedacht, was schreibe ich dieser Frau, wie drücke ich meine Anteilnahme aus, ich bin sogar – um solche Feinheiten mit einfließen zu lassen – in die Bibliothek gegangen und habe ein langes Gespräch mit der Bibliothekarin geführt über irgendwelche Zitate, die sich für einen solchen Todesfall eignen. Ihr wollte auch nichts Rechtes einfallen. Ich habe diverse Bücher durchgeschaut. Auch bin ich eigens zur Friedhofsgärtnerei nach Zehlendorf gefahren, um ein Trauergesteck zu bestellen, ich dachte, dann ist es ganz frisch, die Beerdigung sollte ja am Mittwoch morgen um 10 Uhr sein. Erst wollte ich was mit Stiefmütterchen, dann fand ich das aber doch zu merkwürdig und überließ den Fachleuten die Sache. Für diesen Mittwoch habe ich übrigens eigens eine Sitzung umgelegt, ich bin nämlich auch noch Dekanin meines Fachbereichs, habe also – das sei nebenbei bemerkt – keinen Mangel an Terminen.

Am 31. kam dann ein Anruf der Mutter aus einem Krankenhaus, in dem sie nicht beruflich sei, sondern als Patientin. Überraschend hätten die Wehen eingesetzt, nach längerem Herumplagen mußte ein Kaiserschnitt gemacht werden. Sie sei außer Lebensgefahr jetzt, und auch dem Kind gehe es soweit gut, es habe aber ins Rittberg-Krankenhaus gebracht werden müssen, in eine spezielle Station für Frühgeburten. Sie selbst müsse noch eine Weile im Krankenhaus Waldfrieden bleiben, könne also auch nicht zur Beerdigung kommen, sie bat mich deshalb besonders dringlich, doch bitte in jedem Fall auf dem Friedhof zu sein, es kämen auch noch ihre Mutter und ihre Freundin. Die Trauerfeier mit der Schulklasse und der Lehrerin hingegen habe sie verschoben. Der kleine Simon wöge übrigens 1.200 Gramm, sagte sie zum Schluß noch. Ich gratulierte und versprach natürlich, pünktlich auf dem Friedhof zu sein.

Am Mittwoch also habe ich beizeiten mein Blumengebinde abgeholt, sehr schöne rosa Röschen und anderes Drumherum und machte mich dann auf den Weg. Sie hatte mir ja alles genau beschrieben: auf die weiße Kapelle zugehen und dann ... ich sah drei alte Leute in Schwarz und fragte, ob sie auch zur Beerdigung Cohen wollen, nein, nein, sie wollten zu XY. Ich wartete und wartete, nichts tat sich. Falsche Stelle, dachte ich. In der Kapelle fand ich zwei Totengräber, fragte nach der Beerdigung Cohen, nein, sagten sie, wir haben heute nur „stille Urnen“. Stille Urnen? Ja, keine Beisetzungen, ich solle in der Friedhofsverwaltung nachfragen. Dort erfuhr ich dann, daß es weder auf diesem noch auf den umliegenden Friedhöfen die gesuchte Beerdigung gebe, auch die Gräber von Vater und Bruder gebe es hier nicht.

Nun wollte ich es wissen, ich warf mein Gesteck ins Auto und fuhr zur Conradstraße 2. Ein stattliches Haus, kein Namensschild, so wie eben die Reichen wohnen. Auf mein Klingeln kam dann ein distinguierter Herr heraus und erklärte, daß Cohens hier nicht wohnen und auch nie gewohnt hätten. Er war etwas unfreundlich. Ich fuhr in die nahegelegene Schule. Dort dasselbe. Im Sekretariat sagte man mir definitiv, daß ein Kind dieses Namens nie bei ihnen eingeschult wurde und von solch einem traurigen Fall, hätte er sich ereignet, wüßte dann auch gleich das ganze Lehrerzimmer. Ich dachte, jetzt fahre ich noch ins Krankenhaus „Waldfrieden“. Bereits an der Pforte fand sich keine Frau Cohen im Verzeichnis, ich ging hoch zur Entbindungsstation und fragte, ob vorgestern eine Entbindung durch Kaiserschnitt stattgefunden habe bei einer Frau Mitte Dreißig und erfuhr, sie hatten seit acht Tagen keinen Kaiserschnitt mehr gehabt, und Frühgeburten würden auch niemals von ihnen ins Rittberg- Krankenhaus verlegt. Insofern bin ich dann dorthin gar nicht mehr gefahren. Ich dachte mir, wenn ich jetzt nach Hause komme, dann ist dein Haus ausgeräumt. Ich fuhr erst mal heim. Dort war aber alles vollkommen in Ordnung. Interessehalber wählte ich dann auch noch die Telefonnummer, die ich hatte, und es meldete sich der Anrufbeantworter irgendeiner Teppichbodenfirma. Eine Männerstimme sagte: Verlegeservice sowieso, und: Wie so oft, bin ich im Kundenauftrag unterwegs...

Ich war dann auch noch mal im Klinikum Steglitz. Der Schwester auf der in Frage kommenden Station habe ich in Umrissen meine Geschichte erzählt, die war beeindruckt und schaute sofort in ihren Krankenakten nach, fand aber absolut keinen Hinweis auf „mein Kind“. Ich fuhr dann nach Zehlendorf zur Polizei – an sich wegen einer eingeschlagenen Scheibe an meinem Auto, und in diesem Zusammenhang habe ich dann auch die Geschichte erzählt – und gesagt, tun Sie mir den Gefallen, sehen Sie mal nach, ob es in Berlin überhaupt jemanden gibt mit dem Namen Cohen, Barbara Cohen. Im aktuellen Telefonbuch gibt es zehn Cohens, aber keine Barbara. Der Beamte bestätigte, was ich ohnehin ahnte, es gibt keine, und auch keine Sarah Cohen. Er versprach, die Sache weiterzuleiten, an den Psychosozialen Dienst. Es hätte ja sein können, es ist ein Kind in Gefahr.

Danach habe ich dann diejenigen meiner Kollegen angerufen, die Psychologen sind, weil ich eben dachte, da wird ein Kind unter Druck gesetzt. Ich erfuhr von einem Kollegen, der es wiederum von einem anderen gehört hatte, daß es so einen Fall schon einmal gab, ganz ähnlich. Dieses Kind nun war weggelaufen von zu Hause, und führte die Anrufe von unterwegs, mit einer Frau, und wieder abwechselnd, Mutter-Anrufe, Kind-Anrufe, dramatische Entwicklung. Es wurde vermutet, daß es sich um ein und dieselbe Person handelt, also die Mutter spricht beide Stimmen... und das Grundmuster ist immer gleich; zuerst die Beziehungsknüpfung und dann überstürzen sich bald die Ereignisse, wird die Sorge um das arme Wesen das bestimmende Gefühl. Allerdings, in diesem Fall war die Mutter nicht aufgetaucht. Ja, und was Ihre Geschichte betrifft, so hatte ich ja gedacht, sie sei 1993 geschehen, es hätte also der Säugling auf dem Arm „Ihrer“ Mutter das womöglich tatsächlich geborene Kaiserschnittkind sein können. Ich wußte nicht, daß das Buch zum ersten Mal 91 rauskam, und nun sagten Sie mir, ja, die Geschichte liege fast sieben Jahre zurück, aber dennoch, ich bin sicher, es handelt sich um dieselbe Frau. Deshalb ging mir das auch so unter die Haut, als ich Ihre Geschichte las.

Nun zurück zu „meiner Mutter“. Einmal rief jemand vom Psychosozialen Dienst an, sie sagten, sie würden die Sache an die Kripo weitergeben. Es vergingen so drei Wochen etwa, dann rief eine Kriminalbeamtin an: ob ich mal vorbeikommen könne, sie hätte ein paar Fragen. Dort erfuhr ich dann, sie hatte einen anderen, ähnlichen Fall, auf den Tisch bekommen. Eine Anzeige wegen Kindesmißhandlung war erstattet worden. Als die Polizei zur angegebenen Adresse gefahren sei, habe man dort kein solches Kind ausfindig machen können. Also diesmal wurde eine Frau, in einer sozial etwas anders gearteten Gegend, im Wedding, glaube ich, angerufen. Die Beamtin hat mir nun nicht alle Einzelheiten anvertraut, aber dieser Frau wurde von einem Kind namens Sarah-Maria – diesen zweiten Namen hatte mir die Mutter übrigens für den Friedhofsbesuch auch genannt – gesagt: Dein Mann ist mein Papi! Das war die einleitende Geschichte, die Mutter sei Prostituierte und immer wenn ein Freier oder Gast käme, dann werde das Kind eingesperrt oder bekäme sogar Tabletten, es sei sogar schon im Dunkeln auf die Straße geschickt worden. Es machte Angaben über Kita, Spielplatz, Wohnung, Geschwister. Es hatte auch erwähnt, daß vom Fenster aus, unten an der Straße, ein Schuhgeschäft zu sehen sei. Wieder solche Ortsangaben, die absolut zutreffen. Und bedenken Sie mal, diese Geschichte ist fast zeitgleich mit meiner abgelaufen. Sie hat sie vorher abgebrochen, wohl, weil meine intensiver verlief, die Anzeige unmittelbar bevorstand. Wir haben dann, die Kriminalbeamtin und ich, die ganzen Daten nochmals abgeglichen und die Beamtin deutete auch an, daß es natürlich zu$ starken Krisensituationen zwischen den Eheleuten gekommen war. Insofern – so vollkommen harmlos ist das dann auch nicht mehr, wie bei mir oder bei Ihnen, wo ja keinerlei kriminelle Handlung nachweisbar wäre.

Die Frau jedenfalls soll gesagt haben: Nie wieder spreche ich mit einem Kind am Telefon! Aber wir wissen ja ganz genau, daß es diese Frau gewesen sein muß, die bei uns war, offenbar sind wir bis jetzt die einzigen, denen sie sich gezeigt hat, und das war dann auch der Grund, weshalb mich die Kripobeamtin gebeten hat, eine Phantomzeichnung anfertigen zu lassen.