: „Wer will schon verzichten?“
Hunderttausende beim bundesweiten Warnstreik der ÖTV ■ Aus Berlin Hannes Koch
„Nur 32 Stunden arbeiten? Meine Frau kriegt 'nen Föhn, wenn ich noch öfter zu Hause bin“, meinte ein Fahrer der Berliner Wasserbetriebe, der seinen LKW gestern morgen um sieben Uhr mitten auf einer ansonsten verkehrsreichen Kreuzung in Berlin abstellte. „Ein Mann muß doch arbeiten. Und außerdem: Wenn ich mehr Freizeit habe, brauche ich auch mehr Geld.“
Viele der hunderttausend ÖTV- Mitglieder aus den Berliner Wasser- und Verkehrsbetrieben, Kindertagesstätten und Finanzämtern, die mit ihrem Warnstreik gestern den Berufsverkehr lahmlegten, hatten ihre Schwierigkeiten mit dem neuen Verhandlungsangebot der ÖTV. Gewerkschaftschefin Monika Wulf-Mathies hatte vorgeschlagen, die wöchentliche Arbeitszeit um 6,5 auf 32 Stunden zu verkürzen. ArbeitnehmerInnen sollen dafür Lohneinbußen von etwa zehn Prozent hinnehmen. Die ÖTV will dadurch der Arbeitgeberforderung nach Kostensenkung entgegenkommen, gleichzeitig aber den Abbau von bestehenden Arbeitsplätzen verhindern.
Bei der zentralen Gewerkschaftskundgebung vor dem Amtssitz des Berliner Innensenators fragte sich ein Busfahrer: „Lohnverzicht? Wer will schon gern verzichten?“ Und fügte hinzu: „Ich bin Familienvater, ich brauche das Geld.“ Ein ÖTV-Gewerkschafter von der Stadtreinigung bezweifelte, daß Arbeitsplatzgarantien oder gar neue Stellen durchgesetzt werden könnten. Das ÖTV- Angebot gehe in erster Linie zu Lasten der ArbeitnehmerInnen.
Die Gewerkschaftführung ist jetzt in der Bredouille zwischen ihrer Forderung einer Anhebung der Einkommen von vier Prozent und dem Angebot der Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich.
Berlins ÖTV-Chef Kurt Lange gab sich während der zentralen Streikkundgebung denn auch alle Mühe, Kontakt zur Basis zu halten. Demonstrativ posierte er zwischen den Müllwerkern in ihren orangen Overalls und ließ sich unter roten ÖTV-Fahnen ablichten. In einer vielbeklatschten Rede sprach er populistisch und radikal: „Nicht die Arbeitnehmer verursachen die hohen Kosten, sondern die Vorstandsetagen.“ Die „Nieten in Nadelstreifen“ hätten die Entwicklung neuer Produkte verschlafen und so die Wirtschaftskrise selbst heraufbeschworen. Das Land Berlin könne die jährlich 400 Millionen Mark für die vierprozentige Lohnerhöhung locker aufbringen, wenn der Finanzsenator nur die Steuerschulden der Berliner Unternehmen – 1,5 Milliarden Mark – endlich eintreibe.
Bundesweit gingen zum Warnstreik Hunderttausende auf die Straße. In Magdeburg und Rostock streikten die Müllwerker, in Köln und München waren die Telefonansagen der Fernmeldeämter außer Betrieb. Die massivsten Proteste fanden in Berlin statt. Dort standen zwischen sieben und neun Uhr alle Bus- und U-Bahn-Linien sowie die Autos auf den wichtigsten Hauptverkehrsstraßen still.
Die Bevölkerung nahm den außergewöhnlichen Zustand gelassen hin. Am Montag schon hatten Radio und Fernsehen permanent vor dem Warnstreik gewarnt. Schwierig wurde es dagegen für Geschäftsreisende, die ein Flugzeug in Berlin-Tegel erreichen wollten. Zeitweise war der Flughafen nur zu Fuß zu erreichen. Einige Flugzeuge starteten leer.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen