Menschen wie du beziehungsweise ich: Der Charakterkellner Von Claudia Kohlhase

Er ist der schlechteste Kellner der Stadt. Ich weiß nicht, was er gegen uns hat, aber wenn er uns sieht, bleibt er stehen. Oder zapft sich erst mal einen Espresso, um alles zu verdauen bzw. uns. Dabei ist es egal, wer wir sind; es trifft immer alle. Es ist, als wären wir extra erfunden worden, um ihn zu ärgern. Schließlich haben wir nicht nur Wünsche, sondern auch ein Recht auf Erfüllung. Und ausgerechnet er befindet sich auf der langen Strecke dazwischen, die eigentlich ganz kurz sein könnte, wenn er sich denn bloß wirklich einmal in Bewegung setzte.

Aber er: bleibt sitzen oder eben stehen wie eine beleidigte Uhr. Und wenn er sich erhebt, muß er erst mal aufs Klo, da wo die Spiegel hängen. Immerhin kommt er dann an uns vorbei. So daß wir uns wenigstens übersehen fühlen können, was ja auch ein Gefühl von grundsätzlicher Sichtbarkeit vermittelt. Das Klo liegt relativ weit abgeschlagen unterhalb des Lokals. Und da müssen wir uns doch wundern, daß er immer wieder zurückfindet an die Oberfläche: als hätte er hier bei uns etwas verloren oder würde uns suchen. Es kann auch sein, daß die Spiegel ihn geärgert haben. Denn er hat viel zu tun, um seinen Anblick zu gewährleisten: die hübsch nach links gescheitelten Haare fallen manchmal häßlich nach rechts, die knapp an uns vorbeischießende Schießbrille erblindet von den Fettaugen unserer Suppen, und unter der seidigen Weste leidet das tapfere Hemd.

Aber eines Tages kommt er doch und horcht in die obere Luft, in die wir unsere Wünsche hinaufflehen. Von da nimmt er sie angeekelt mit bis hinter den Tresen, als dürfe er sich nicht infizieren lassen von der Unreinheit unserer Ansprüche. Und erst nachdem wir verhungert, verdurstet und verschimmelt sind, bringt er schon mal den Kaffee. Gut abgestanden und ohne Zucker. Aber hier nimmt schon lange keiner mehr Zucker. Im Grunde gewöhnen wir uns auch langsam ab, etwas haben wollen zu dürfen oder am Ende sogar zu essen. Zwar gibt es eine Speisekarte und auch einen Mittagstisch, aber wer faßt schon gerne mit seinem persönlichen Daumen in abgelutschte Dekor-Orangen oder brächte freiwillig Sonderlöffel. Nachher wird ja doch wieder alles abgeräumt, wozu also vorher hinbringen? Na, da ist es gut, daß man die abgefressenen Teller so lange stehen lassen kann, bis sich auch der letzte mit Grausen von seinen Salatblattfeudeln wendet und endlich das Lokal verläßt.

Der Mensch ist ja sowieso ein Charakterschwein und verdient im Grunde nur Charakterschnitzel oder einen Kellner wie ihn, der alle mit ihren Abgründen konfrontiert, darum macht er das ja.

Im Sommer gibt es übrigens auch draußen noch Stühle, das ist der Gipfel. Da hat ihn einmal einer gebeten, nach einem Regenschauer über einen Stuhl zu wischen. Da ist er weiß geworden vor Wut und hat ihm den gußeisernen Sonnenschirmständer auf den Fuß gestellt. Seitdem hat ihn keiner mehr was Persönliches gefragt, und wir bringen bei unklaren Wetterverhältnissen alle unser eigenes Läppchen mit.

Wir freuen uns jetzt schon langsam, daß wir überhaupt kommen dürfen. Ich hoffe, wir bringen es auch noch so weit, ihm einmal seinen größten Wunsch zu erfüllen: darauf warten zu lernen, nichts zu bekommen. Aber vielleicht wird ihm ja vorher gekündigt.