Den Wörtlichnehmern verpflichtet

■ Oskar Pastiors Sestinen: dekorative Behältnisse einer poetischen Erfahrung

Im rumänischen Siebenbürgen der frühen dreißiger Jahre geht ein Mann gelegentlich auf Hasenjagd. Das erbeutete Tier wird mit blutigem Kopf an die Haustür gehängt. Der Sohn, noch im Kindergartenalter, darf der Prozedur des Fellabziehens beiwohnen. Eines Abends erwacht das Kind, das im Zimmer der Eltern schläft, vom Flüstern des Vaters. Es hört im Zusammenhang mit Gelddingen den Vater sagen, daß man es ihm abziehen wolle. Der Junge sieht daraufhin seinen Vater an den Füßen aufgehängt vor sich, die Haut wie ein Hasenfell über die Ohren gezogen. Er nahm, was er hörte, ganz wörtlich. Der Lyriker Oskar Pastior, der dieser siebenbürgische Junge war, nahm damals zum ersten Mal das Wort beim Wort. Seither fühlt er sich den Wörtlichnehmern verwandt.

Pastior widmet sich in seinem gerade erschienenen Buch „Eine kleine Kunstmaschine“ der lyrischen Gattung Sestine. Das schöne Bändchen erinnert an die formästhetische Buchtradition des beginnenden Jahrhunderts. Der Dichter erleichterte das Verständnis, indem er jedes Gedicht mit einer Fußnote bedachte und – wohl nicht ohne Schmunzeln – ein erklärendes Nachwort schrieb. Die aus dem Schlummer der Troubadourzeit erweckte Sestine umfaßt sieben Strophen, wobei die ersten sechs aus sechs Zeilen und die letzte aus drei Zeilen besteht. Das entscheidende ist, daß sich die Endwörter in den Zeilen einer Strophe als Ganzreim in der darauffolgenden mit der veränderten Reihenfolge 6, 1, 5, 2, 4, 3 wiederfinden. Naturgemäß nimmt Pastior die Spielregel der Sestine wörtlich, das heißt, er spielt mit der Regel. Auf gut pastiorisch: „Subversion durch Zusatzregeln“. Das Gedicht „fortschreitender metabolismus in einer sestine“ ist ein markantes Beispiel für Zu-satz. Hier wird in jede Strophe ein neues Reimwort hinzugemogelt, so daß am Ende die neugefügten Wörter das Sestinenmosaik bestimmen. Da wird von Außergewöhnlichem („das überschwappende moment eines löschblattes“) oder Alltäglichem gesprochen („... schnurrt ein sechstagerennen/ aus dem gebläse meiner nasenwurzel“). Aus den 6x6-Versen der Sestine wird Sinnliches entfacht („beispielsweise zur erledigung der zeit- / lich angestauten dinge in räumlicher erhebung / .. ich bin leider keine hypotenuse / und falle öfter mal in die geduld / von deckungsgleichen kurzen spinnen- / beinen..“) und Spruchweisheit gezogen („schnöde freunde sind reine privatsache / gestörte meuchelmörder meiden sich im prater / nur öde bräute scheiteln sich pragmatisch“). Zusammenhanglose Elemente sind rhythmisch, in raffinierten Reimen oder Schüttelreimen miteinander verknotet („aus hohlem bauch des ortes bohlenhauch“). Das Wort „grübelspeise“ taucht auf und hofft darauf, in der „sestine mit aubergine“ angerichtet zu werden. Oskar Pastior empfiehlt in diesem Gedicht ein Auberginenrezept aus Salz, Öl und Lauch. In der Zubereitung hat der Koch zwei kleine Sestinenfehler verbraten, die aber die Genießbarkeit nicht beeinträchtigen. Im Gegenteil, der Regelbruch gibt das persönliche Aroma.

In allen Sestinen dieses Bändchens bestimmt das pikante Dichterwort den Geschmack. Die Grammatik der Sestine ist bei Pastior ein dekoratives Behältnis seiner poetischen Erfahrung. Eine ans Leben greifende Spracherfahrung ließ den siebenbürgischen Jungen zum Dichter werden. S. Müller-Brömsel

Oskar Pastior: „Eine kleine Kunstmaschine. 34 Sestinen“. Mit einem Nachwort und Fußnoten des Autors. C. Hanser Verlag, 104 Seiten, geb., 28 DM.