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Von der Würde der Bediensteten

Weltgeschichte aus der Untersicht. Neue Dokumente zu „Was vom Tage übrigblieb“, aufgespürt  ■ Von Anja Seeliger

Mr. Stevens hatte Lord Darlington über 20 Jahre als Butler gedient. In den 30er Jahren hatte der Lord keine glückliche Hand, was die Wahl seiner politischen Freunde betraf. Sicher waren seine Absichten nur die ehrenhaftesten. Aber selbst wenn man akzeptiert, daß die Behandlung Deutschlands durch die Alliierten des Ersten Weltkrieges seinen Sinn für Fairneß empfindlich verletzte, ist man doch gezwungen zuzugeben, daß Lord Darlington etwas blauäugig den neuen Machthabern Deutschlands seine Unterstützung anbot. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzten die Zeitungen Lord Darlington arg zu. Manche verstiegen sich gar zu der – ganz ungerechten – Behauptung, er sei ein Nazifreund gewesen. Der Lord nahm sich die Vorwürfe so sehr zu Herzen, daß er bald darauf starb. Ein Amerikaner, Mr. Lewis, ersteigerte Darlington Hall. Einige Jahre später, wir befinden uns bereits in den 50er Jahren, litten englische Landsitze unter einer derartigen Personalknappheit, daß Mr. Stevens – Sie erinnern sich, der Butler – beschloß, Mrs. Kenton, die während der 30er Jahre die anspruchsvolle Tätigkeit einer Haushälterin auf Darlington Hall ausgeübt hatte, in Cornwall aufzusuchen, um sie zu bitten, nach Darlington Hall zurückzukehren. Diese Reise beschäftigte aus verschiedenen Gründen auch das übrige Personal und führte zu dem ungewöhnlichen Briefwechsel zwischen der Köchin auf Darlington Hall, Mrs. Mortimer, und dem Butler eines benachbarten Landsitzes. Es ist keineswegs üblich, daß Personal von so großem Standesunterschied Briefe tauscht, wie Sie Mrs. Mortimers starker Reaktion auf Mr. Grahams Schreiben unzweifelhaft entnehmen können, aber die Umstände scheinen die überaus große – fast schon an Neugier grenzende – Anteilnahme an Mr. Stevens' Reise zu rechtfertigen. Doch lesen Sie, und bilden Sie sich selbst ein Urteil.

Sehr geehrter Mr. Graham,

als unsere Rosie mir Ihren Brief brachte, konnte ich es erst gar nicht glauben. Es erschien mir so ungewöhnlich, daß ich vor Aufregung regelrecht Herzklopfen bekommen habe. Es müssen jetzt beinahe 22 Jahre her sein, seit wir Sie das letzte Mal in Darlington Hall gesehen haben. Ich sehe, daß Sie noch immer bei Sir Chambers Dienst tun, dabei dürften Sie doch jetzt schon bald 70 Jahre alt sein. Aber Sir Chambers weiß wohl einen erfahrenen Mann zu schätzen, auch wenn der vielleicht nicht mehr wie ein Reh die Treppen hinauf- und hinunterspringen kann. Nun ja, einem Reh waren Sie allerdings selbst in Ihren jungen Jahren nicht sehr ähnlich.

Doch da schwatze ich so daher, und dabei wollte ich Ihnen doch erzählen, was es mit Mr. Stevens' Reise nach Cornwall auf sich hatte. Natürlich war ich sehr verwundert darüber, daß Sie überhaupt davon wußten, doch dann fiel mir ein, daß unser Dienstmädchen Nellie vor einiger Zeit nach Chambers Hall gewechselt hat. Vermutlich hat sie ihnen allerhand Unsinn erzählt. Wie Sie sicherlich schon Gelegenheit hatten festzustellen, leidet Nellie unter einem Übermaß an Phantasie und übertreibt ihre Erzählungen gerne. Aber von einer „unerfüllt gebliebenen Liebe“ zu sprechen, ist doch wirklich die Höhe. Geben Sie bloß nichts auf dieses törichte Geschwätz. Tatsächlich ist folgendes geschehen: Mr. Lewis, der, wie Sie sicher aus der Zeitung erfahren haben, Darlington Hall ersteigert hat, war so freundlich, Mr. Stevens im letzten Jahr seinen Wagen für eine Ferienreise zu leihen.

Haben Sie so etwas schon einmal gehört? Sie können nicht überraschter sein, als ich es war, aber Robert, unser Unterbutler, versicherte mir, er habe mit eigenen Ohren gehört, wie Mr. Lewis zu Mr. Stevens sagte: „Nehmen Sie doch den Wagen und fahren Sie für ein paar Tage irgendwohin. Sie sehen aus, als könnten Sie eine kleine Abwechslung gebrauchen.“ Abwechslung! Ich frage Sie, wieviel Abwechslung hat ein Mann schon, wenn er mutterseelenallein in einem Auto durch die Landschaft braust? Und dann noch im Wagen seiner Herrschaft. Diese Amerikaner haben doch wirklich merkwürdige Vorstellungen davon, was sich gehört. Und Mr. Stevens nahm das Angebot tatsächlich an. Immerhin

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machte er sich anheischig, unserem Dienstbotenmangel abzuhelfen und erklärte, er wolle nach Cornwall fahren, um Mrs. Kenton, von der er einen Brief erhalten hatte, zu besuchen. Offenbar hatte Mrs. Kenton in ihrem Schreiben den Anschein erweckt, sie sei in ihrer Ehe nicht sehr glücklich und erwöge, in den Dienst nach Darlington Hall zurückzukommen. Offen gesagt, es wundert mich nicht, daß ihre Ehe scheiterte. Manche haben freilich eine Vorliebe für ihre Art von Freimütigkeit, aber ich muß gestehen, daß ich nie zu ihren Bewunderern gehörte. Ich erinnere mich noch, wie sie Mr. Stevens einmal in einem Ton ansprach, der fatal an eine Zurechtweisung erinnerte, dabei hatte Mr. Stevens ihr lediglich mitgeteilt, daß Sir Darlington zwei Hausmädchen aus seinem Dienst zu entlassen wünsche. Jüdinnen, Sie verstehen. Das war in den 30er Jahren, und damals war man sich nicht so klar darüber, was es mit diesen Personen auf sich hatte. Inzwischen scheinen sie ja einen eigenen Staat gegründet zu haben, so daß derartige Maßnahmen heute wohl nicht mehr nötig wären. Jedenfalls war Lord Darlingtons Anweisung eindeutig, wie Mr. Stevens gegenüber Mrs. Kenton bemerkte. Jede Person von Anstand hätte das auf der Stelle akzeptiert. Aber nicht so Mrs. Kenton. Sie fuhr Mr. Stevens regelrecht an, daß er sich einer großen Ungerechtigkeit schuldig mache und drohte sogar mit ihrer Kündigung, falls die zwei Hausmädchen entlassen würden. Natürlich hat sie ihre Drohung dann doch nicht wahrgemacht, wo hätte sie auch hingehen sollen, doch kann ich nicht umhin, zu sagen, daß ich Mrs. Kentons Reaktion damals bedauerlich taktlos, um nicht zu sagen anmaßend fand.

Sie verstand es immer ausgezeichnet, Mr. Stevens gegen sich aufzubringen. Er ließ es sich natürlich nicht anmerken, doch wer ihn ein wenig kannte, wußte genau, wann Mr. Stevens auf das äußerste angespannt war. Sein Mund stand dann immer ein wenig offen, wie bei einem Karpfen. Womit ich natürlich nicht sagen will, daß Mr. Stevens einem Karpfen ähnlich sah, im Gegenteil, er ist auch heute noch recht stattlich, obwohl er weit über 60 sein muß, aber es sah immer so aus, als stünde er kurz vor einer Explosion. Ich erinnere mich, wie beeindruckt Robert früher war, wenn während der großen Konferenzen, zu denen Lord Darlington die größten Köpfe der damaligen Zeit aus England, Frankreich und Deutschland in sein Haus einlud, Mr. Stevens bei Tisch bediente und diese Angewohnheit von ihm – den Mund etwas offen stehen zu haben – den Anschein erweckte, als höre er den Gesprächen der Gäste so angeregt zu, daß zu befürchten war, er könne jeden Moment dazwischenreden – eine absurde Vorstellung –, während er in Wirklichkeit lediglich den Moment abpaßte, wann ein Redner zu Ende gesprochen hatte, um ihm Wein nachzuschenken oder Lord Darlington, wenn er seine Ansprache beendet hatte, den Stuhl wieder unterzuschieben. Robert versicherte mir damals, Mr. Stevens sei ihm wahrlich als ein wahrhaft Berufener erschienen.

Das bringt mich übrigens darauf, daß Mr. Lewis, der jetzige Besitzer von Darlington Hall, ebenfalls bei einer dieser Konferenzen, auf denen Lord Darlington übrigens um Unterstützung für die deutsche Regierung warb, anwesend war. Ich glaube es war 1936. Wie mir berichtet wurde, scheint er damals eine sehr unhöfliche Rede gehalten zu haben, in der er Lord Darlington einen „Gentleman- Amateur“ nannte und behauptete, England benötige „Professionelle“ für seine politischen Angelegenheiten. Höchst ungehörig, dies zu seinem Gastgeber zu sagen – zu einem Mann, der einem Butler seinen Wagen ausleiht –, und außerdem liegt es auf der Hand, daß er unrecht hatte. Er hätte nur Mr. Stevens beobachten müssen, um feststellen zu können, daß auch England „Professionelle“ vorzuweisen hat. Vielleicht erinnern Sie sich, daß gerade während dieser Konferenz Mr. Stevens' Vater an einem Schlaganfall verstarb. Mr. Stevens nahm sich nicht einmal die Zeit, ihm die Augen zu schließen, so stark war er damals von seiner Arbeit in Anspruch genommen, die er niemals aufgrund privater Angelegenheiten vernachlässigt hätte. Malen Sie sich nur einmal aus, welche niederschmetternden Folgen es hätte haben können, wenn der tragische Todesfall bekannt geworden wäre und – sei es nur durch eine Trübung der geselligen Atmosphäre – zum Scheitern der Konferenz geführt hätte. Lord Darlington hätte dies gewiß zu Recht als illoyal empfunden. Mr. Stevens war absolut loyal, und auch dies, so glaube ich wenigstens, macht einen Professionellen aus. Übrigens, je mehr ich darüber nachdenke, desto unverständlicher ist mir Mr. Lewis Kritik. Wenn ich mich recht erinnere, haßte Mr. Lewis die Deutschen, und die waren ziemlich loyal zu ihrem Führer und, was man so gehört hat, auch ganz schön professionell. Wie auch immer, es ist alles schon so lange her, und vielleicht gerät mir da auch etwas durcheinander. Doch eines ist wohl klar geworden: Mr. Stevens und Mrs. Kenton hätten überhaupt nicht zusammengepaßt. Mrs. Kenton war immer mit dem Mundwerk vorneweg, und – ich will nicht zu unhöflich scheinen – sie war geradezu taktlos direkt, während Mr. Stevens gelegentlich an einen Stockfisch gemahnte, so kurz angebunden konnte er sein. Sie müssen zugeben, daß nichts als Unglück aus einer so ungleichen Verbindung hätte entstehen können. Wie zu erwarten war, ist Mr. Stevens dann auch ohne Mrs. Kenton aus Cornwall zurückgekommen, da sie sich offenbar entschieden hat, nun doch bei ihrem Mann zu bleiben. Wie Sie sehen, hatte die Reise durchaus nichts Ungewöhnliches an sich, und ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß sich auch sonst nicht allzu viel auf Darlington Hall verändert hat, abgesehen davon, daß wir natürlich viel weniger Personal beschäftigen als früher, aber das dürfte auf Chambers Hall nicht viel anders sein. Mr. Lewis hat Gott sei Dank nicht sehr viel von einem Amerikaner an sich. Er liest seine Zeitung, reitet aus und empfängt Gäste, ganz wie früher Lord Darlington. Tatsächlich erscheint es mir manchmal, als sei er Lord Darlington. Das ist natürlich Unsinn. Lord Darlington hätte seinen Wagen niemals an seinen Butler verliehen.

Ich hoffe Sie noch einmal bei guter Gesundheit wiedersehen zu können und verbleibe

Ihre ergebene Rose Mortimer

„Was vom Tage übrig blieb“. Regie: James Ivory. Mit Anthony Hopkins, Emma Thompson, James Fox u.a. USA 1993,

134 Min.

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