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„Gib auf, du Schwein“

Serie: Berliner Gören '94 (fünfte Folge) / Zu Schlägern und kleinen Kampfmaschinen werden Jugendliche vor allem durch eine gewalttägige Gesellschaft / In der DDR autoritär gefesselt, entfesseln sich jetzt die Aggressionen  ■ Von Detlef Berentzen

Berlin-Kreuzberg/Gneisenaustraße: „Mach ihn fertig!“ tönt es vom Mittelstreifen der Chaussee und „Kill das Arschloch“. Der Mann mit der Aktentasche beschleunigt seinen Schritt, geht vorbei und dreht sich noch einmal hastig um. „Guck' nicht so blöd. Du kommst auch gleich dran“, ruft ihm einer von den Jungen zu, die sich um die Kampfszene scharen.

„Gib auf, du Schwein!“ keucht gerade der Braunäugige, der auf dem Blauäugigen sitzt, und schlägt noch einmal zu. Nasenbluten, Hämatom, Tränen in den Augen – Der da unten ist allein(-gelassen), schluchzt tief drinnen vor Angst. Braunauge steht auf, versetzt ihm einen Tritt. Die Lippe unter seinem Bartflaum zittert. Einen Moment nur. Dann zieht er johlend mit seinen Freunden von dannen. Blauauge richtet sich auf. Nur ganz langsam schafft er das. Dann schreit er haßerfüllt „Ihr Schweine“. Und weint.

Die Kinder, die Jugendlichen sind gewalttätig, heißt es. Sie sind roh. Gefühllos. Schon im frühen Alter „kleine Kampfmaschinen“, schreibt der Spiegel, bei denen es zu „eruptiver Gewalt“ kommt. Zeigefinger werden erschrocken ausgefahren, Schlagzeilen, Lust und Projektion produziert. Doch niemand, der Zivilcourage zeigt, im konkreten Fall eingreift.

Neukölln/Sanderstraße: „Hilfe!“ schreit es aus dem Dunkel des Hinterhofs. Stöhnen dringt an die abendlichen Fenster. Manche werden geöffnet. Eine Frauenstimme: „Lebste noch?“ Wieder: Stöhnen. Keiner, der nachschauen geht, was los ist, der eingreift. Die Hilferufe werden leiser. Noch einmal dieses: „Lebste noch?“ Immer mehr Leute hängen aus den Fenstern. Der alte Mann röchelt nur noch. Der andere (ein wenig jünger), der auf ihm sitzt, hat einen abgebrochenen Flaschenhals in der Hand. Beide bluten. Wie die Schweine. Beide sind am Ende. Keuchen. Feuerwehr und Polizei kommen. Die beiden Erwachsenen werden abtransportiert. Dann ist wieder Stille. Im Hinterhof.

Keine Schlagzeile, die dieses Geschehen aufnehmen würde. Kein Vorwurf und keine Generalisierung à la: Die Erwachsenen sind wie „Kampfmaschinen“, aggressiv, feindselig. Nein, Schwamm drüber. Aber die Jugendlichen, ja die... Auf sie richtet sich das wollüstige Augenmerk. Was da nachwächst, ist gefährlich, schlägt zu, ist brutal. Ängstlich und zufrieden kriecht die Mehrheit der Erwachsenen zusammen und macht den vermeintlichen Gegner aus. Einen Gegner, der doch nichts anderes tut, als ihnen den Spiegel vorzuhalten. Es war Erich Fried, der riet, „wenigstens nur einmal“ in den blauen oder auch braunen Augen „das eigene Spiegelbild“ zu erkennen.

Der Spiegel ist zerbrochen. Liegt auf der Erde. „Zerbrochen!“ Der Mutter schwillt die Stirnader. Ihre Augen werden starr. Prallen ab von dem Kind, das schuldbewußt auf die Scherben blickt. Dann greifen die Hände der Mutter das Kind, schütteln es und schlagen ihm kurz darauf ins Gesicht. Mehrmals. Das Kind weint. Will fortrennen. Wird festgehalten. Noch einmal geschlagen. Noch Minuten später schluchzt das Kind. Gedemütigt. Kleingemacht.

Ja, Kinder dürfen geschlagen, angebrüllt, niedergebrüllt werden. Zwar nicht mehr so obligatorisch und gerechtfertigt wie einst, aber dennoch: „Es passiert halt“, entschuldigen sich die Mutter und der Vater. Doch Kinder, Jugendliche, die dann (vollgestopft mit gewalttätigen und demütigenden Erfahrungen) irgendwann auch einmal schlagen, brüllen, flippen, ausrasten, sich nicht mehr zurückhalten können, deren Disziplin zusammenbricht? Das darf nicht sein.

Berlin Ost. Vor gar nicht so langer Zeit: Die Sportlehrer erhalten Erläuterungen zu den „Ordnungsformen und Kommandos“ der ersten Klasse: „In der Grundstellung steht der Schüler in gerader Haltung still; die Hacken sind aneinander und die Fußspitzen eine Fußbreite auseinander gestellt. Die Hände werden zur Faust geballt und mit dem Mittelfinger an die Hosennaht gepreßt. Die Muskeln sind angespannt.“ Laut Exerzierausbildung DV 10/1 ist die Grundstellung einzunehmen bei Kommandogebung, beim Erstatten einer Meldung oder auf das Kommando „Achtung“. Es konnte festgestellt werden, daß diese Forderungen durchaus realisierbar sind.

Die Kinder, die Jugendlichen wurden in Verhaltens-Korsetts geschnürt, die ihnen jede lebendige Äußerung verunmöglichen sollten. Sie wurden gefesselt. Jetzt explodieren manche von ihnen, sind „ent-fesselt“, nickt der Mann vom Prenzelberger „Festland“, Thomas Hauder, der dort „auffälligen“ Kindern und Jugendlichen zur Seite tritt, aber auch deren Eltern berät: „Durch die Wegnahme des autoritären Drucks kommt vieles ans Tageslicht, was vorher im Innern der Kinder ablief. Jetzt sind es viel mehr Kinder, die von der Schule weglaufen, die überhaupt ihren Aggressionen freien Lauf lassen.“

„Was tun die Kinder?“ ist nur die eine Frage. „Was tat man den Kindern?“ die andere. Mehr noch: „Was geht eigentlich in den Erwachsenen vor?“ Den Erwachsenen in Ost und in West? Sie haben Angst! Sie sind voller Aggression! Veränderungen stehen ins Berliner und ins deutsche Haus. Überhaupt: Gesellschaftliche Krise, Umbau, Verarmung und Entlassungen bringen Ängste, Verluste und Haß hervor.

Nichts ist wahrer: Die Kinder, die Jugendlichen sind Seismographen des gesellschaftlichen Zustands. Sie reagieren empfindsamer als jeder Erwachsene auf die Krisen ihrer Umgebung. Gerade Jugendliche sind wach, sensibel. Und sie können es auf den Teufel nicht leiden, wenn man sie einmal mehr zu Opfern, zu Sündenböcken macht. Ein Teil von ihnen, ein kleiner nur – ein Blick auf die Statistiken von Kriminalpolizei und BKA genügt –, reagiert auf diesen Zustand gewalttätig, wird zu Tätern: brandschanzt, verletzt, provoziert, kotzt, bildet Banden (und hat dafür die Konsequenzen zu tragen). Ein größerer Teil (52 Prozent) gibt sich verbalradikal, wenn er der verdrossenen Stimmung in den Elternhäusern Ausdruck gibt, indem er Umfrageexperten sein Verlangen nach einer „starken Hand“ kundtut und nach „Recht und Ordnung“ schreit.

„Ha, da haben wir's ja“, die Frau in der U-Bahn schlägt mit der Hand auf die Zeitung, „die heutigen Jugendlichen sind Nazis, und das schon mit 15 oder 16 Jahren!“ Kein Hammer, der sie (ob dieses Un-Sinns) trifft. Nein, mann/frau in ihrer Umgebung, sind zufrieden, nicken. Endlich hat die Angst einen Namen: „Nazis“. Das sind die Jugendlichen. Steht ja schließlich in der Zeitung. Also: Etikett vor die Stirn, und ab in die rechte Ecke. Die U-Bahn kreischt. Als ein paar Jugendliche, in typischer „Zusammenrottung“, ins Abteil kommen, wird es still.

„Das sind Rechte, wir sind Linke, die Rechten kriegen eins auf die Schnauze, keinen Fußbreit den Faschisten, genau das ist der hohle Inhalt des alten Koordinatensystems, mit dem man die Gegenwart nicht mehr bearbeiten kann. Damit provoziert man nur, sonst nichts. Wenn Sie einem jungen, kahlrasierten Mann hinterherrufen: „Du Nazi!“ da kriegen Sie zu Recht eins in die Fresse, weil er höchstwahrscheinlich kein Nazi ist.“ Bodo Morshäuser mischt in Berlin die Vorurteile auf, attackiert die „Nachkriegsinvaliden“, die Vorverurteilungen. Klagt den Dialog ein. Das Hinschauen. Das Eingreifen. Sitzt auf manchem Podium und motzt. Und hat recht. Die Stigmatisierung der Jugendlichen in toto als gewaltbereite, gefährliche Masse löst die Probleme nicht. „Warten auf den Führer“ (neuester Buchtitel Morshäusers) ebenfalls nicht. Und doch: Man wartet auf Autoritäten.

Sie stehen auf der Ecke zusammen – zehn, fünfzehn Kreuzberger. Zwischen zehn und siebzehn. Warten. Auf den Führer. Speedy soll jeden Augenblick dasein. Er hat die Sache in der Hand. Ist der „Leader“. Hat Erfahrung... und schon einiges mitgemacht: „Von der Schule geflogen, Messerstich und so“. Man sollte ihn kennen. Vor allen Dingen, wenn man nicht so direkt zu der „Gang“ gehört: „Sonst kannste schon mal Ärger kriegen.“ Als sie das letzte Mal Markus ans Leder wollten, ist der vor lauter Angst in den Landwehrkanal gesprungen: „Besser man stellt sich gut mit denen!“ Jetzt gehört er dazu, alles ist „easy“... Man steht eng beisammen. Raucht. Residiert im „Getto“. Hat eine Heimat gefunden. Hat seine Ruhe. Vor den Erwachsenen.

Nicht weit davon entfernt: eine Eckkneipe. Eine von vielen. Männer sitzen hier beisammen. Rauchen. Trinken. Debattieren. Streiten. Aus den Lautsprechern wabert der „Schneewalzer“. Zwei gehen vor die Tür. Sehen den „Wartburg“, der ein paar Meter weiter repariert wird. Die beiden grölen schwankend: „Haut ab, Ihr Scheiß- Ossies. Macht, daß Ihr rüberkommt!“ Dann stolpern sie feixend zurück in den Muff der Kneipe. In ihre Heimat. Der Kiez bleibt sauber.

Und irgendwo, mittendrin in diesem Kiez, diesem „Getto“, patrouilliert eine lächerlich kleine Reparaturkolonne, „Streetworker“ mit Namen. Sie realisieren einen Teil des „Anti-Gewalt-Programms“, fahren „Gangways“ heran und versuchen, den Jugendlichen (die sie erreichen) zuzuhören, sie zu verstehen, ihre Konflikte zu entschärfen, ihnen Selbstbewußtsein zu vermitteln – jenes Selbst-Bewußtsein, jenes Wissen über die Hintergründe und Folgen des eigenen Tuns (oder Lassens), dem die Erwachsenen dieser Stadt sich in der Regel verweigern.

Der Autor beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Problemen der Kindheit, war Herausgeber der Zeitschrift „enfant T.“ und arbeitet für Fachzeitschriften und den Rundfunk.

Die letzte Folge erscheint am Montag kommender Woche.

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