Der russische schwarze Humor

Hat einen neuen Meister: Wladimir Wolfowitsch Schirinowski, Sohn einer Russin und eines Juristen  ■ Von Wladimir Sorokin

Das Gelächter ist, wie Nietzsche treffend bemerkte, die letzte Bastion des Sklaven. Späße zu machen war schon immer eine Fähigkeit und Vorliebe des russischen Volkes. Und nicht allein wegen seiner viele Jahrhunderte währenden versklavten oder halbversklavten Existenz. Gigantische schneebedeckte Weiten, in denen man sich leicht verliert, das harte Klima, die Ungeregeltheit des Alltags – all dies stimulierte und schärfte das Gespür für Humor. Wie alles, was aus dem Volk kommt, besitzt auch der russische Humor wahrhaft unbegrenzte Möglichkeiten. Mit seiner Hilfe läßt sich vieles ausdrücken. Beinahe alles. Mit den Zeiten ändern sich auch die Späße unseres Volkes. Manchmal sind sie gutmütig, und manchmal stehen einem die Haare zu Berge. Einmal fuhr mich ein älterer, gutmütig aussehender Taxifahrer durch Moskau. Es war der 9. Mai, der Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus, Sonne, traumhaftes Wetter. Den Alten überkamen die Erinnerungen: „Also, rollt unsere Panzerdivision in Ostpreußen ein. Wir auf der rechten Straßenseite im dritten Gang. Und links, uns entgegen – deutsche Flüchtlinge mit ihrem Krempel. Frauen, Kinder und alte Leute. Und wir alle besoffen. Da gibt der Divisionskommandeur über Funk Befehl: Achtung! Im Namen von Genosse Stalin wird Linksverkehr angeordnet! Nach li-inks! Und alle fünfzig Panzer – auf die linke Straßenseite. Wir überrollen die Flüchtlinge. Knirschen, Schreien. Dann der Kommandeur: Im Namen von Genosse Stalin wird Rechtsverkehr angeordnet! Nach re-echts! Und wir nach rechts. Kurz und gut, oben aus dem Turm geschaut – die ganze Division mit roten Ketten.“ Hier strahlte sein Gesicht so unbekümmert und unschuldig, daß jeder Vorwurf sinnlos wurde. Trotzdem fragte ich: „War es nicht schrecklich, so etwas zu tun?“ – „Du bist vielleicht ein Kauz! Wir haben doch nur Spaß gemacht!“ lachte er.

Das ist der russische schwarze Humor.

Am 12. Dezember 1993 hat das russische Volk auch Spaß gemacht, als es zu einem großen Teil für die Partei von Schirinowski stimmte. Westlichen und russischen Soziologen folgend, kann man nach sozialpolitischen Gründen für diese Tat suchen und endlos allgemein bekannte Tatsachen zusammenmixen vom Typ: „Das ist kein Sieg Schirinowskis, sondern eine Niederlage der völlig in Verwirrung geratenen Demokraten“ – „In der Regel wird die rote Gefahr von der braunen abgelöst“ – „In Zeiten ernster Krisen ist der Spießer leichter bereit, sein Vertrauen wüsten Demagogen zu schenken“ – „Eine plötzliche Verarmung des Volkes zieht die Sehnsucht nach der eisernen Hand nach sich“ und so weiter. Um das Phänomen vom Dezember zu begreifen, reicht dies meines Erachtens nicht aus.

Mir scheint der Sieg von Schirinowskis Partei – oder, genauer: diese Stimmabgabe von Millionen russischer Staatsbürger – zutiefst irrational, eine karnevaleske Geste, eine hebephrenische Reaktion des Volkes auf den Zerfall des gewohnten Makrokosmos UdSSR.

Ein Freund, Augenzeuge des Erdbebens in Armenien, erzählte mir, wie ein Mann, dessen Haus sich innerhalb von Sekunden in eine Ruine verwandelt hatte, statt der traditionellen Tränen laut lachend auf die Ruine kletterte, die Hosen herunterzog und dem Himmel seinen Hintern zeigte. Die Abstimmung vom 12. Dezember ist eben jener metaphysische Hintern, den unser Volk dem tückischen, dialektischen Alltag gezeigt hat. In dieser Hinsicht ist die Wahl des Objektes, für das gestimmt wurde, völlig gerechtfertigt. Schirinowski ist eine durch und durch folkloristische Gestalt, eine Figur, die aus einem Witz stammt, ein professioneller Spaßvogel. Alles, was mit ihm zu tun hat, ist wie ein Witz, unsinnig, absurd und zielt unbewußt auf eine einzige gesunde Reaktion: das Gelächter. Seine politische Tätigkeit fing mit einem Witz an. Als Schirinowski 1991 seine Kandidatur für die Präsidentenwahlen angemeldet hatte, nahm er an mehreren Fernsehdebatten teil. Auf die Frage eines Journalisten nach der Nationalität seiner Eltern anwortete er, bemüht, die jüdische Abstammung seines Vaters zu verhehlen: „Meine Mutter ist Russin, mein Vater Jurist.“ In einem Land mit reichlich antisemitischer Vergangenheit, wo in privatem Kreis ein gemäßigter Antisemitismus bis heute zum guten Ton gehört, ist ein Politiker, der seine Karriere so beginnt, zum Spaßvogel verurteilt.

Dazu beigetragen haben auch sein Familien- und Vatersname. Die Wurzel des Familiennamens Schirinowski – „schir/fett“ – verweist auf die unzähligen, unter Kindern üblichen Spottnamen für dicke kleine Jungen: Fetter, Fettwanst, Fettsack usw. Der Vatersname Wolfowitsch (d.h. Sohn des Wolfs) läßt an die russischen Volksmärchen denken, in denen der Wolf eine Schlüsselfigur ist. „Es kommt der graue Wolf und frißt dich ganz schnell auf“ ist ein weitverbreitetes Wiegenlied. Man wird kaum jemanden finden, der es nicht zitiert, sobald die Rede auf Schirinowski kommt. Der „Juristensohn“ selbst, sich seines Histrionenwesens sehr wohl bewußt, war immer konsequent bei der Festigung seines eigenen Images. Alles Unsinnige, Humorige, was der Vernunft entbehrt, wurde von ihm unverzüglich genutzt. Er begann mit heftiger russischer Chauvinismus-Propaganda, mit ultranationalen Ausrufen, schwor seine Bereitschaft, „die erniedrigte und beleidigte russische Nation an jedem Fleck der Erde zu verteidigen“.

Aus dem Munde eines Mannes mit semitischem Äußeren klang das besonders unsinnig. Es rief spöttisches Lächeln hervor. Die gegründete ultranationale Partei taufte er liberal-demokratisch, begann mit der Herausgabe der Zeitung Schirinowskis Falke, wurde ein Freund von Saddam Hussein, begann von „internationaler jüdischer Verschwörung“ zu reden. Das rief ein kräftiges Lachen hervor. Bei den ersten Präsidentenwahlen versprach er, im Falle eines Erfolgs jedem Bürger Rußlands ein eigenes Haus zu bauen und die Versorgung mit billigem Wodka. Das sicherte Schirinowski sieben bis acht Prozent und ein nachhaltiges Lachen, das in lautes Gelächter überging. Eine Fernsehreportage aus jener Zeit: „Warum stimmen Sie für Schirinowski?“ Antwort: „Ich weiß nicht ... ein witziger Kerl! Die anderen sind viel zu ernst.“

Doch zum Lachen zu bringen wurde von Monat zu Monat schwieriger, die kaleidoskopartige russische Realität erforderte neue Tricks. Es genügte ganz offensichtlich nicht, die Mobilmachung russischer Freiwilliger zur Unterstützung Saddams zu verkünden, beide Putsche aktiv zu unterstützen, zornig zu fordern, „den Serben real (d.h. auf militärischem Weg) zu helfen“. Nötig war ein radikales Vorgehen. Es entstand Wladimir Wolfowitschs Buch „Der letzte Sturm auf den Süden“. Es ist der humoristische Versuch, die russische Variante von „Mein Kampf“ zu schreiben. Das Buch bleibt in Umfang und Qualität hinter dem Original zurück: Im Unterschied zur grundlegenden Leistung Hitlers ist „Der letzte Sturm auf den Süden“ ein schlampiger, hastig zusammengeschriebener und schlecht komponierter Text, was zweifellos Schirinowskis Genre entspricht. Nach der rührenden Autobiographie des „Politiker neuen Typs“ (schwere Kindheit in der Provinz, früher Verlust des Vaters, der insgeheime Wunsch, „gesellschaftliche Anerkennung“ zu erlangen, Studium und Hungerleiderdasein in der Hauptstadt) sind in diesem Buch seine ideologischen Konzeptionen und geopolitischen Bestrebungen dargelegt. Die Hauptintentionen beider Bücher treffen sich: dort „Deutschland über alles“, hier „Rußland über alles“.

Doch es gibt auch Unterschiede: Bei Hitler waren die Juden an allem schuld, und die Bewegung sollte nach Osten gehen, bei Schirinowski sind die Türken der Hauptfeind, und Ziel des letzten russischen Sturms ist der Süden. Die Begründung allerdings stimmt vollkommen überein: „Daher ist das jüdische Volk bei allen scheinbaren intellektuellen Eigenschaften dennoch ohne jede wahre Kultur, besonders aber ohne jede eigene. Denn was der Jude heute an Scheinkultur besitzt, ist das unter seinen Händen meist schon verdorbene Gut der anderen Völker. [...] Die Wirkung seines Daseins [des Juden, V.S.] aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: Wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab.“ (Adolf Hitler, „Mein Kampf“, Kapitel 11, Volk und Rasse)

„Es gibt überhaupt keine türkische Kultur, es gibt keine Kultur mit blankgezogenem Säbel. [...] Die Türken haben der Menschheit nur Übel gebracht – wie die Deutschen. Doch über die Deutschen wurde Gericht gehalten, die Türken aber wurden nie bestraft. [...] Mit der Welt passiert überhaupt nichts, auch wenn die gesamte türkische Nation untergeht, obwohl ich ihr das nicht wünsche.“ (Wladimir Schirinowski, „Der letzte Sturm auf den Süden“)

Vieles gemeinsam haben die Autoren beim Verständnis solch wichtiger Probleme wie „Reinheit der Nation“, „äußere Gefahr“, „Einflußsphäre“, „historische Notwendigkeit“. Das Wichtigste jedoch ist: neuer Lebensraum. Schirinowskis Buch ist durchdrungen von der paranoischen Idee eines „Durchbruchs nach Süden“, in jedem Kapitel schäumt dieses Thema immer wieder hoch, um sich am Ende als malerisches Panorama des Künftigen zu zeigen: „Ich sehe die russischen Soldaten sich versammeln zu diesem letzten südlichen Feldzug. Ich sehe die russischen Kommandeure in den Stäben der russischen Divisionen und Armeen die Marschrouten der Kampfverbände unterstreichen und die Endpunkte der Marschrouten. Ich sehe die Flugzeuge auf den Stützpunkten im Süden Rußlands. Ich sehe die Unterseeboote an den Ufern des Indischen Ozeans auftauchen und Landungsboote sich den Ufern nähern, wo bereits die Soldaten der russischen Armee marschieren, die Kampffahrzeuge der Infanterie fahren, die riesigen Panzermassen vorstoßen. Endlich nun vollendet Rußland seinen letzten Kriegszug.“ 75.000 Exemplare dieses Buches verkauften sich ohne große Mühe am Vorabend der Wahl. Die letzte Fernsehverbindung Schirinowskis mit dem Volk wurde zur Apotheose seiner vor der Wahl veranstalteten Clownerien. Den Russen riet er, „den letzten Sturm zu unternehmen“, den Muselmanen der südlichen Republiken, auf die städtische Zivilisation zu verzichten, in Jurten umzusiedeln und sich der Viehzucht zu widmen, den Frauen Rußlands, beim Sex freier zu sein und „zu lernen, was ein Orgasmus ist“. Das Resultat: Volksgelächter und Wahlsieg.

Ein Halbjude, dessen Familie väterlicherseits von deutschen Faschisten erschossen wurde, benutzt ganz offen faschistische Ideologie, faschistische Methoden zur Beherrschung der Massen in einem Land, wo Millionen ihr Leben im Krieg gegen den Faschismus gelassen haben. Das ist schwarzer Humor mit kräftigem Leichengeruch. Bis zur Präsidentenwahl in Rußland sind es noch zwei Jahre. Nach heutigem Ermessen eine allzu große Zeitspanne. Langes Warten. Für den Clown wie für das Publikum. Die Wahrscheinlichkeit, daß während dieser zwei Jahre die Tricks ausgehen und das Publikum sich zu langweilen beginnt, ist sehr groß. Falls jedoch ein Wunder geschieht und der Clown mit seinem Können auf der Höhe bleibt, dann wird es nicht schwierig sein, die nähere Zukunft vorherzusagen: das halbzerstörte Moskau im Mai, ein lächelnder Taxifahrer in seinem rostigen Wagen: „Also rollt unsere Panzerdivision in Kuwait ein. Wir auf der rechten Straßenseite. Und uns entgegen, auf der linken – kuwaitische Flüchtlinge. Da gibt der Kommandeur über Funk Befehl: ,Im Namen von Herrn Schirinowski wird Linksverkehr angeordnet! Nach li-inks!‘“

Aus dem Russischen

von Thomas Wiedling