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Pulsschlag auf Kolibri-Frequenz

Ja, so waren die Sechziger: Ein igelhaariger Junge am Fuß der blauen Berge war  ■ Manfred Kriener

Opa Pfeiffer konnte Schachspielen und Skatspielen und Romméspielen. In seinem kleinen Wohnzimmer flog der Wellensittich Conny, der sich auf unsere Schultern setzte. Auf dem Kachelofen stand ein alter Käfig, in dem der Graupapagei Chaco in regelmäßigen Abständen „Trink, trink, Brüderlein, trink“ pfiff. Opa Pfeiffer hatte einen Enkel, der in der Schule neben mir saß: mein bester Freund. Opa Pfeiffer hatte zudem ständig Zigaretten herumliegen. Und er hatte einen Fernseher, der ockerfarben in der Ecke döste. Ich besaß keinen Papagei und keinen Wellensittich, durfte nicht rauchen und konnte weder Skat- noch Schachspielen. Aber vor allem weigerten sich die Eltern, einen Fernseher zu kaufen. So wurde ich gezwungen, meine Tage bei Opa Pfeiffer zu verbringen. Ich lernte Schach-, Skat- und Romméspielen, ließ mir vom Wellensittich ins Ohrläppchen picken, hörte fasziniert den Graupapagei pfeifen und klaute Opa Pfeiffers Zigaretten. Und ich sah fern, zum ersten Mal in meinem Leben und dann immer wieder.

Aber vor dem Vergnügen stand die Scham, die den Fernsehschirm verdunkelte. Das heimliche Davonstehlen von zu Hause, um dann zuerst recht mutlos vor dem Nachbarhaus zu stehen und auf die Klingel zu starren. „Pfeiffer“ stand dort zu lesen, nackt und schwarz. Und jedes Mal hat mich das aufdringliche Klingeln nach dem Druck auf den weißen Knopf erschreckt. Dann vergingen endlose Sekunden mit pochendem Herzen. Der entscheidende Satz war längst präzise zurechtgelegt und innerlich oft genug ausprobiert: „Ich wollte fragen, ob ich zum Fernsehgucken kommen darf.“ Ein Nein hat es nie gegeben, aber der Eintritt ins nachbarliche Wohnzimmer war jedes Mal ein Eindringen, eine peinlich empfundene Störung. Dabei war Opa Pfeiffer ein netter Herr. Vermutlich haben ihn die regelmäßigen Besuche des igelhaarigen Jungen in kurzen Lederhosen überhaupt nicht gestört. Aber ich selbst habe den Weg in das fremde Haus immer mit eingezogenen Schultern absolviert und erwartete in jedem Augenblick, hochkant hinausgeworfen zu werden. Aus meiner höflichen Frage machte die Hausherrin die knappe Kurzformel „der Manfred will fersehgucken“. So wurde mein Kommen trompetenhaft angekündigt. Zum Glück war ich selten allein, der Freund saß meist schon in Kauerstellung. Wir plazierten uns beide auf dem Teppich, der freundlich angebotene Sessel wurde sorgsam gemieden. Je kleiner man sich macht, desto weniger fällt man auf.

Es war uns verboten, das Fernsehgerät zu bedienen. Und wir hielten uns mit sklavischem Gehorsam daran. Niemand hätte es gewagt, den heilige Kasten auch nur zu berühren. Wir blickten ihn sehnsüchtig an, aber wir mußten warten, bis er unsere Träume ausspuckte, unsere Helden und Lieblinge. Die Wundermaschine – soviel war klar – gehorchte nur dem Knopfdruck Opa Pfeiffers. Der allein besaß die Autorität, stakste mit langem gebrechlichen Schritt in die ockerne Ecke oder blieb trotz unserer Blicke sitzen, blieb stundenlang ungerührt einfach sitzen. Opa Pfeiffer entschied über das Programm und damit über Glück und Unglück, über Tränen und Seligkeit, über blutige Verfolgungsjagden mit Indianern und Postkutschen und dem öden Blick aus dem Fenster, wo der abgesägte Ast des Kirschbaums seine rote Wunde zeigte.

Wenn Opa Pfeiffer auf den Knopf drückte, mußten wir warten, bis die Röhre voll da war. Dann bildete sich plötzlich ein Punkt in der Mitte des Ocker-Kastens, der sich schnell vergrößerte, schwarz auf uns zu explodierte und sich in einem Bild entlud. Dieser Augenblick war der schönste. Die Erlösung nach langem Warten, die Entschädigung für den ängstlichen Druck auf die viel zu laute Klingel. Stundenlang, manchmal tagelang hatten wir uns auf die Sendung gefreut, jetzt war es soweit.

Auf viele Filme konnte ich leicht verzichten. Lassie war langweilig mit dem ewig winselnden Collie, der ständig Hilfe herbeijaulte, weil wieder jemand mit dem Fuß in der Bergspalte steckte oder einstürzende Bergwerke kleine Kinder begruben. Auch Fury trommelte immer auf dieselbe Art und Weise mit den Hufen, um Gefahr im Verzuge zu melden. Und später das nervige Schnarren von Flipper – deswegen auf die Klingel drücken? Es gab nur einen wirklichen Grund, nur eine große Liebe, für die sich die geduckte Pirsch ins nachbarliche Wohnzimmer immer wieder lohnte: „Am Fuß der blauen Berge – ein Fernsehfilm aus dem Wilden Westen“.

Schon die Erkennungsmelodie erhöhte den Pulsschlag auf Kolibri-Frequenz. Wenn dann im Vorspann Slim Sherman seinen Stetson lässig in den Nacken schob, wenn Jess Harpers schwarze Handschuhe in der Sonne glänzten, die Haushälterin Daisy gütig ins Wohnzimmer lächelte, wenn der kleine Andy zum Wasserholen ging und die Kamera über die staubige Koppel schwankte, dann wartete ein neues großes Abenteuer auf uns. Dann ritten wir aus Opa Pfeiffers schlecht belüftetem Wohnzimmer im vollen Galopp nach Laramie, der Ur-Stadt des Wilden Westens. Dort lag die Sherman-Ranch, die Bastion des Guten und Schönen. Dort lauerten aber auch Viehdiebe und Revolverhelden, Postkutschenräuber und Frauenschänder. Dort tauchten unrasierte Mexikaner auf, deren umgehängte Patronengürtel bedrohlich die Brust kreuzten. Dort trieben die drei Catlin-Brüder ihr Unwesen, dort wurde geritten, geschossen, gekämpft und gestorben. Dort stritten Slim und Jess für die gerechte Sache. Und sie wichen keinen Zoll von ihrem Weg ab.

Jess war uns lieber als Slim, er war geheimnisvoller, jünger und schöner, ein dunkler, rassiger Typ. In Bravo hatten wir gelesen, daß Jess-Darsteller Robert Fuller auch im richtigen Leben ein echter Cowboy war, der lange als Stuntman gearbeitet hatte und auch gefährliche Szenen ohne Double drehte. An Deutschland mochte Fuller vor allem seine Bratwürste. Wir mochten vor allem Jess' Schlägereien. Niemand setzte seine Schwinger so dynamisch an das Kinn der Schurken, bewegte sich dabei so katzenhaft geschmeidig und sah mit seinem gemeißelten Gesicht so unverschämt gut aus. Natürlich machte er auch mit schnellen Händen von seinem Schießeisen Gebrauch, wenn die Parole hieß: „Zieh, Fremder!“ Jess Harper war unser Gott.

Wir haben die Sendungen nicht nachgespielt, aber wir haben unsere Pistolen mit der Zündplättchen-Munition genauso schnell gezogen, unsere Plastik-Winchester mit derselben Sicherheit auf eine Gang Schwarzwälder Pferdediebe angelegt. Und spät abends, wenn die Sonne blutrot am Horizont stand, drehten wir uns zwar nicht im Sattel, aber im Bett auf die andere Seite, nahmen einen Schluck aus der Wasserflasche und tätschelten nochmal die braune Stute, bevor uns das Dunkel der Nacht umfing.

P.S.: Die Wildwest-Abenteuer am Fuß der blauen Berge waren zwischen 1960 und 1965 zu bestehen, die Sendung war einer der größten Publikumserfolge des Deutschen Fernsehens. Als die Serie fünf Jahre später in Farbe neu aufgelegt wurde, waren wir zu alt. Und der Weg zu Opa Pfeiffer war überflüssig geworden, weil jetzt im eigenen Wohnzimmer ein großer Kasten stand. Aber ohne Wellensittich, ohne Papagei, Skatblatt und Zigaretten. Und ohne die Sehnsucht der frühen Jahre.

Der Text ist mit freundlicher Genehmigung des Klartext-Verlags dem Band „Am Fuß der blauen Berge“ (Hg. Bernd Müllender, Achim Nöllenheidt) entnommen. Das Buch, das Interviews, Porträts, Erinnerungen rund um die Flimmerkiste aus der Zeit der Fernsehtruhe enthält, erscheint Mitte April.

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