: Man kann doch über alles reden
■ Jetzt schriftlich: Roger Willemsens Extrem-Gespräche
Roger Willemsens Fernseh-Gespräche mit Prominenten wie Günter Netzer, Ornella Muti oder Helmut Newton kommen nicht zum Schluß, der Fernsehzuschauer wird mit Abspann und Erkennungsmelodie rausgeschmissen. So wird man gewahr, daß man für die Zeit des Gesprächs ein Voyeur war, der, aus welchem Grund auch immer, Gefallen daran gefunden hatte, zuzuhören und zuzusehen. In den 1991 und 1992 täglich ausgestrahlten Interviews der Sendung „0137“ waren Willemsens Gäste noch nicht allein durch Profession und Name zur öffentlichen Redezeit legitimiert, sondern jeweils durch ein Ereignis, das ihnen widerfahren war oder das sie verursacht hatten. Der Bankräuber, der seine Beute an Arme verschenkt, der Todeskandidat, der seine Unschuld beteuert, die mehrfach vergewaltigte muslimische Frau aus Bosnien, der Psychopath, der sein Opfer verspeist, der Henker aus Leipzig, Mütter von Mauerschützen und -opfern und die Frau, die von ihrem Freund angezündet wurde; zielt die Reihung des Bizarren und Monströsen im coolen Medium Fernsehen auf unsere pure Neugier und läßt die Ereignisse am Ende in Gleichgültigkeit verblassen? Und nun noch als lauer Aufguß das Buch zur Serie?
„An der Grenze“ ist nicht das schriftliche Protokoll dessen, was zu sehen war, und es ist keine Literarisierung plakativer front-page- stories. Willemsen stiftet den Zusammenhang von Grenzsituationen, in die Menschen geworfen waren oder in die sie sich ganz bewußt begeben haben. Tod, Folter, Freiheitsentzug, Krankheit, körperlicher und psychischer Terror, solche Gewaltverhältnisse changieren immer schon auf der Grenze zwischen demonstrativem Ausstellungszwang und dem Verschluß ins Innere. Gleichzeitig bilden sie Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Phantasie. „Nicht das Abstruse und das Monströse sind interessant“, schreibt Willemsen, „sondern ihr Zusammenhang mit dem sogenannten ,Normalen‘. Insofern kann es auch hier nicht darum gehen, Menschen, die durch eine Konstellation in ihrem Leben an die Grenze getrieben wurden, noch einmal dem lüsternen Blick der Öffentlichkeit preiszugeben. Es geht vielmehr darum, sie in den Bezirk der gesellschaftlichen Kommunikation einzubeziehen und durch ihre Berichte den Bereich des Denkbaren und Aussprechlichen zu erweitern.“ Sein frommes Vorwortversprechen löst Willemsen in den Interviews Seite für Seite auf atemberaubende Weise ein. An die Stelle des Abspanns setzt er Kommentar, Widerspruch und Reflexion und lotet distanziert die gesellschaftliche Dimension der Extremsituationen aus. Grenzsituation ist ein schwaches Wort für erschütternde und groteske menschliche Erfahrungen, die unvordenklich sind, aber – einmal geschehen – die Betroffenen immer begleiten werden als Wahn, Angst und Erinnerung. Willemsen zeigt, daß es selbst angesichts eines bizarren Falls von Kannibalismus einen Austausch mit dem Täter geben kann. Nicht Schreinemakersche Einfühlung und Moral, sondern Recherche, Aufmerksamkeit und Strategie, wechselnde Einstellungen zwischen Affirmation und Konfrontation sind die Techniken solcher „Vorstöße in den toten Trakt der Gesellschaft“. Statt Schicksalhaftigkeit enttarnen die Gespräche Kontextualität. Das Fernsehen wäre so gesehen nicht generell eine Auflösungsapparatur von Erfahrung, sondern gerade dort geeignet, wo andere Kommunikationsformen versagen.
In ihrer behutsamen Aufbereitung lesen sich die Interviews als Matrix sozialen Leidens. Die Bekenntnisse der Gäste sollen mit der Neugier des Zuschauers kollidieren, aber der voyeuristische Impetus kann sich in aufklärerische Energie verwandeln. Nicht Information und Erlebnis bilden das Interesse von Willemsens Übertragungsversuchen, sondern die verdeckte Beziehung der Grenzgänger zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. In „An der Grenze“ macht Roger Willemsen dort weiter, wohin das Fernsehen nicht vordringt. Aus äußerst spekulativen menschlichen Grenzsituationen hat er ein präzises Stück Literatur gemacht. Harry Nutt
Roger Willemsen: „An der Grenze“. Kiepenheuer und Witsch Verlag, 265 Seiten, 18,80 DM.
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