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„Wenn das mein Vater erfährt...“

Serie: Berliner Gören '94 (sechste und letzte Folge) / „Was heißt hier eigentlich Liebe?“ / Der Secondhand-Parka aus dem US-Shop ist heutzutage vollkommen out: „Born to shop“ – Jeder fünfte Jugendliche befindet sich im Kaufrausch  ■ Von Detlef Berentzen

„Pooh, der hat die gepeitscht. Und nackt warn'se auch beide!“ ... Chris macht große Augen. Eben kommt er mit Pit aus Alis Wohnung. Ali hat den beiden stolz Papas Videos gezeigt. Pornos. Die elfjährigen Jungen haben rote Köpfe, sind aufgeregt. So funktioniert das also, so wird also „Liebe“ gemacht. Chris und Pit kommen aus dem Staunen nicht heraus. Ali hingegen gibt sich souverän: „War ja nicht das erste Mal, daß ich die Videos geguckt hab'.“

Ein paar Jahre später sind Pornos bereits für alle drei Jungen Routine. Sie werden samt Actionfilmen aus der Videothek „zwei Straßen weiter“ ausgeliehen. Mit dem Stapel unterm Arm geht es dann in Chris' Wohnung. Der Schlüssel dreht sich im Schloß der Zimmertür, die Vorhänge werden zugezogen, und dann „ziehen wir uns die Dinger rein“. Ein paar „härtere“ müssen jetzt schon dabeisein, sonst „wird's ja langweilig“. Ansonsten kursieren Pornohefte, Ratgeber für „99 Stellungen“, werden „gewisse Telefonnummern“ angerufen und auch schon mal ein paar Mädchen eingeladen. Chris hat schließlich eine sturmfreie Bude. Die Eltern sind so frei.

„Was wollen Sie in dem Alter denn noch ausrichten?“ fragt die Mutter. „Besser sie machen es hier und offen als heimlich. In der Wohnung habe ich wenigstens noch ein wenig Kontrolle!“ Resigniert hört sich das an: „Die machen doch eh, was sie wollen.“ Die Mutter erinnert sich noch, daß es „all das“ natürlich bei ihr „früher“ nicht gab. „Aber jetzt...?“ Die Jugendlichen sichten das, was ihnen die erwachsene Welt an Bildern für Liebe und Sexualität gegen Entgelt konsumierbar anbietet. Sie organisieren ihre eigene „Aufklärung“, ihre eigene Bilderlust. Was im Hinblick darauf in ihrer Schule lief, gilt nur noch als „Pipifax“.

„Wie bitte? Pornos? Finde ich gräßlich, abstoßend. Solche Filme zerstören die wahre Liebe! Die jungen Leute sollten so etwas nicht sehen.“ Die Passantin auf dem Tauentzien ist erregt. Ihre Tochter hätte mit dem „Filmzeugs“ nichts im Sinn. Der stehe dem Mädchen eher nach Romantik, Zärtlichkeit und Treue... Die Tochter tritt daneben auf der Stelle. Und nickt.

Die beiden Alten, ein paar Meter weiter, wissen um den Wert von Liebe und Treue: „Gibt es das noch für Sie, Liebe?“ „Hohhoho, ach Gott, wir sind fast dreißig Jahre verheiratet, aber immer noch zusammen, das sehen Sie ja!“ „Und die Liebe? Spüren Sie die noch?“ „Na ja, ein wenig.“ Und wo spüren Sie die?“ „Hähahä...“, dann gehen sie weiter.

Hinter den beiden hängt ein Werbeplakat: Er nackt. Sie nackt. Sie: Begehren in den Augen, schlingt die Arme um ihn. Er: Blick in weite Ferne, Parfüm in der Hand. Ein teures Parfüm. Chris hat es sich zu Weihnachten gewünscht... und zu den anderen Markenparfümfläschchen auf sein Regal gestellt. Unweit des Fernsehers. Wenn er abends loszieht, ins „Ecstasy“, dann nebelt er sich ein. Vielleicht klappt es ja heute mit der richtigen, wahren Liebe?

Draußen warten die anderen. Feingemacht: Baseball-Käppi (Schirm nach hinten gedreht), Baseballjacke („Raiders“), T-Shirt („Reebock“), Jeans („Diesel“), Turnschuhe ( „Nike“): „Ein paar von den Sachen haben wir abgezogen, sind schließlich sauteuer“ – Zitat aus einer Untersuchung des Hamburger „BAT-Freizeitforschungsinstituts“: „Die Konsum- Kids wollen gerne Konsumpioniere sein, stehen aber gleichzeitig am unteren Ende der Einkommensskala.“

„Born to shop – Jeder fünfte Jugendliche im Kaufrausch“ titeln die Zeitungen. „Keine Rede mehr vom alten Parka aus dem US- Shop“, stöhnt der 68er-Vater und greift zum Geldbeutel. Wieder Resignation: Die Attacken der industriellen Bilder- und Werbekampagnen auf Kinder und Jugendliche zeigen Wirkung: Die Konditionierungskampage läuft (lange schon), und sie hat ihr Ziel erreicht. Wo sich Erwachsene über Konsum definieren, gilt dies für junge Menschen erst recht, zudem sind sie leichter erreichbar. „Anders läuft der Laden nun mal nicht.“

Umsatz machen, neue Märkte erschließen. Selbstbewußtsein stellt sich über die öffentlich präsentierte Bilderflut her. Wer „Erfolg“ haben will, hat sich entsprechend auszustaffieren. Und es klappt. Chris hat SIE kennengelernt. Endlich. Herzbeben... In der nächsten Zeit achtet er peinlich auf sein Aussehen, besucht das Solarium, duscht stundenlang und telefoniert noch länger: „Liebling“, haucht er in den Hörer, weich wie nie. Wenn er nicht telefoniert, sieht man sich. Spricht. Berührt sich. Schläft miteinander („Nie ohne Präser!“). Im Zimmer von Chris natürlich. Ihre Eltern würden das nie erlauben. „Vor dem achtzehnten Geburtstag kommt das nicht in Frage!“ haben sie ihrer Tochter gesagt. „Streng muß man sein, sonst läuft alles aus dem Ruder“, ist das Motto des gutbetuchten Vaters. Die tatsächliche Erfahrungswelt der Tochter existiert nicht, wird von ihm ausgeblendet. Also läuft alles heimlich, per Ausrede, per Ausflucht – „Meine Güte, wenn mein Vater das erfahren würde, der würde mich umbringen!“

Er erfährt es nicht. Das Mädchen lebt weiter. Zwei Leben. Das eine mit Chris. Der hat inzwischen keine rechte Lust mehr, seine „Kumpel“ so oft zu treffen. „'n Verräter ist der“, sagen die und fahren große Sprüche auf, was „die Weiber“ alles so sind und wo sie hingehören. Letzte Zuckungen, bevor sie selbst „dran“ sind...

Derweil spricht Chris von Verlobung, von Kindern, träumt von einer gemeinsamen Wohnung. Achtzehn Jahre ist er alt und will es besser machen. Seine Mutter hat nach der Trennung von seinem Vater nie wieder richtig Tritt gefaßt. Blieb „Alleinerziehende“ ohne feste Beziehung. Überfordert. Nicht einmal eine Hausgemeinschaft, die ihr unter die Arme gegriffen hätte.

Liebe in Zeiten des Umbruchs. Suche der Jugendlichen nach Halt und nach Perspektive. Liebe leben zu können bleibt abhängig von dem, was das Kind erfuhr, welche Bilder zum Thema „Liebe“ assoziiert werden können – Vorbilder: Die öffentlichen Bilder von „Porno“ bis „Frühstücks-Rama“- Idylle sind Lügen. Die Bilder der Eltern von lebenslanger Liebe und Treue sind hinfällig geworden. Die Rollen von Mann und Frau sind nicht mehr die, die die Eltern lebten. Alles steht zur Disposition. Vieles muß neu erfunden werden. Die Jugendlichen suchen sich zu orientieren.

Dazu braucht es Raum. Gesellschaftlichen Raum. Raum zur Erfindung der eigenen „Facon“ von Liebe. Autonome Räume, Experimentierräume für die Jugendlichen. Was es nicht braucht, sind ideologische Rollback-Versuche: Die Frau an ihren Platz, der Mann an seinem, und die Kinder halten endlich wieder die Schnauze. Nein, es braucht Zeit: Zeit für die Erwachsenen, die Liebe zu ihren Kindern und damit deren Liebesfähigkeit überhaupt erst einmal zu ihrem Thema zu machen. Es gälte einzuhalten und zu merken: So, wie es ist, kann es nicht bleiben, darf es nicht einfach weitergehen. Liebe definiert sich eben nicht über prall gefüllte Kinderzimmer, volle Kleiderschränke und das Dritt-Auto in der Familie, wie bislang Arm und Reich suggeriert wurde.

Alle Kompensationsversuche nutzen nichts. Eben das wird zunehmend gespürt: Es bleibt ein Gefühl des Hohlseins, der Leere, der Depression, der Aggression. Es braucht nicht mehr käufliche Dinge, es braucht Kontakt. Kontakt zur persönlichen und gesellschaftlichen Realität. Kontakt zu den Kindern, den Gören dieser Stadt. Es gälte sie wahr- und ernstzunehmen. Mit jedem Aufbegehren, jedem Schrei, jeder Verweigerung signalisieren sie dies Bedürfnis. In immer größerem Maße: „Die Kinder sind hartnäckiger geworden, und das ist auch gesund so“, war neulich von einem „Festland“-Therapeuten im Prenzlauer Berg zu hören... Bleibt zu hoffen, daß sie dies auch bleiben.

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