■ Standbild: Das war ihr Leben
„Der Fall Christa Wolf“, So., 23.05 Uhr, ZDF
Die Medien erfüllen bekanntlich die Wünsche des Menschen: das Buch den Wunsch nach einer schönen und vor allem regelmäßigen Schrift, das Radio den Wunsch nach Gesprächen mit den Geistern, die Schallplatte den Wunsch, die Stimmen der Toten zu hören.
Und das Fernsehen? Nun, es vermag unter anderem den Wunsch zu erfüllen, einmal zuhören zu dürfen, wenn die anderen (aus der Schulklasse, aus dem Betrieb, aus der Clique) über dich reden: Findet Heiner mich wirklich langweilig? Hält Rolf mich für eine Petze? Glaubt Frank, daß ich als Klassensprecherin versagt habe? Ob Günter noch zu mir hält? Und Friedrich? Wie Rolf wohl vor anderen über mich spricht (er konnte mich noch nie leiden)? Wird Bärbel mich verteidigen? Was ist mit Jürgen, der damals von der Schule verwiesen wurde, nach dieser Sache mit Wolf? Haßt er mich?
Bange Fragen, wie sie sich Christa Wolf bis vorgestern abend gestellt haben mag; dann war endlich Beate Pinkerneils Film zu sehen, der lauter Leute mit Meinungen zu Wort kommen ließ. Christa Wolf war selber nicht darunter, sie saß zu Hause und erfuhr: Ja, Heiner findet dich langweilig. Nein, Jürgen haßt dich nicht. (Ach was, nach all den Jahren!) Ja, Rolf hält dich für eine Plaudertasche und Streberin, die immer zu den Lehrern gehalten hat und als Klassensprecherin total überfordert war. (Frank dito.) Uff! Günter, die treue Seele, hält tapfer zu dir, auch wenn er sich um Kopf und Kragen redet dabei: „Staatssicherheitsdienst, das müssen Sie verstehen: das war doch der Sicherheitsdienst ihres Staates.“ Friedrich findet dich im Rückblick nicht mehr so toll wie früher, als du noch das große Wort geführt hast; er ist heute selber Klassensprecher. Nur Bärbel, die Gute, sagt trotzig: Christa war eine von uns!
Es ist nicht das einzige Mal, daß in den Stellungnahmen, die die Reporterin gesammelt hat, dieses mortifizierende Tempus gebraucht wird: „Das war ihr Leben“, so hätte man die Sache betiteln können. Unbedarfte Zuschauer, die sich mittenmang dazugeschaltet haben, mögen auch gleich das Schlimmste befürchtet haben. (Aber die zur Unzeit Betrauerte sollte sich nicht allzu laut beklagen, schließlich schien sie in den vergangenen drei Jahren tatsächlich von einem Totstellreflex gefangen.)
Nein, nein, so kann man es nicht machen. Entweder man interessiert sich für diese Frau, dann setzt man sich um Himmels willen auch mit ihr an einen Tisch und stellt ihr ein paar klare Fragen. Oder man läßt es einfach bleiben. Man kann aber nicht antreten mit einem Cinemascope- Titel wie diesem: „Die Intellektuellen und die Macht. Der Fall Christa Wolf“, um dann eine Stunde lang Kollegenklatsch in den Äther zu blasen, gewürzt mit den heute leider handelsüblichen Sprüchen eines respektabel gewordenen Geschichtsrelativismus über die „zwei Diktaturen“.
Kann sich da draußen noch jemand daran erinnern, daß über die Legitimität solcher Aussagen in diesem Lande einmal mit großem Einsatz gestritten worden ist? Man nannte es, glaube ich, „Historikerstreit“. Jörg Lau
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