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Eine tschechische Insel in Hamburg

■ Das Leben tschechischer Binnenschiffer in einer Enklave im Hafen, Flußromantik und die Vertiefung der Elbe Von Frank Wache

Ein bleigrauer Himmel lastet auf Norddeutschland. Kaum etwas bewegt sich. Wenig Konturen, wenig Farbe – das Leben ist wie in Sülze eingedickt. Links und rechts wölbt sich der Deich nach oben. Vor Zdenek Kozel drücken sich zwei „Schwimmende Wannen“ durch das trübe Wasser der Elbe. Bei Kilometer 595 fliegt eine Möwe vorbei. Zehn Kilometer weiter grüßt der Schlepper „Favorit“.

Kapitän Zdenek Kozel kennt solche Tage. Seit 20 Jahren fährt er in einem gläsernen Kasten auf zwei Stützen zwischen Tschechischer Republik und Hamburg hin und her. Seine Autobahn ist die Elbe, sein Laster das 800 PS starke Schubschiff TR-31.

„Liebst du auch den rauhen Wind, der das Meer nach vorne treibt...?“ Das NDR-Nachmittagsprogramm macht die Fernfahrer-Gemütlichkeit auf der Brücke perfekt: Zwei tropfenförmige Pilotenbrillen liegen unbenutzt hinter der Frontscheibe. Sitz, Rückspiegel und Scheibenwischer sind aus einem LKW abgeschraubt. Kronenkorken der Biermarke „Vratislavice Pipovar“ zittern im Rhythmus der Skoda-Dieselmotoren auf einigen Bedienungsknöpfen. Steuermann Mikes erklärt knapp: „Die Lampen in den Knöpfen blenden nachts“.

Kapitän Kozel freut sich auf das Ende der Reise. Usti, Dresden, Meißen, Dessau, Magdeburg, Hamburg – 650 Kilometer bei einer Geschwindigkeit von 7 km/h. Hinter Wittenberge passiert das Schiff die ehemalige Grenze zwischen BRD und DDR. „Hier haben wir oft stundenlang gewartet. DDR-Grenzer kamen mit Schäferhunden an Bord und durchsuchten Schiff und Ladung. Die wußten natürlich, daß immer wieder Leute aus der Tschechoslowakei mit dem Schiff in den Westen flohen“, erinnert er sich.

Kurz vor Hamburg geht der Steuermann an den Bug und klappt die Lampenmasten ein. Auf der Elbe herrscht Flut. Die TR-31 quetscht sich bedrohlich nahe an eine Brücke heran. Kapitän Zdenek Kozel greift zum Funkgerät und ruft die Niederlassung seiner Reederei in Hamburg. Am anderen Ende meldet sich die Stimme von Jiri Trpisovsky, dem Schiffs-Ober-inspektor der „Tschechoslowakischen-Elbe-Schiffahrts-AG“ (CSPL). Er dirigiert das Schubschiff in den Peutehafen, eines der Hafenbecken der Reederei. Ahoi Hamburg.

An einer kleinen Halbinsel im Peutehafen macht die TR-31 fest. „Privatgelände“ signalisiert das Schild am Eingangstor. Der asphaltierte Weg führt an einem windschiefen Hausmeisterhäuschen vorbei zu einem vierstöckigen Hauswürfel im 60er Jahre-Stil. Einige Sträucher, ein paar Bäume, etwas Rasen – auf den ersten Blick hat das Grundstück nichts Besonderes an sich. Doch der unscheinbare Flecken Erde ist Teil der Weltgeschichte: Seit fast 75 Jahren, seit dem Versailler-Vertrag vom 28. Juni 1919, ist die Halbinsel am süd-östlichen Zipfel des Hamburger Hafens Teil der Tschechischen Republik. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die neugegründete Republik Tschechoslowakei Zugang zum Seehandel gefordert. Der kürzeste Weg, den die Diplomaten auf der Landkarte fanden, führte von der Moldau zur Elbe und von dort über Hamburg zur Nordsee. Die Tschechen erhielten als Reparation freie Fahrt auf der Elbe, ein Gebiet im Hamburger Hafen und Verlademöglichkeiten für den Seehandel. Geld und Schiffe für die tschechische Binnenflotte stammten aus der aufgelösten „Österreichischen-Nordwest-Dampfschiffahrtsgesellschaft-Wien“. 1922 liefen die ersten Schiffe in den Hamburger Hafen ein.

Sieben Jahre später, 1929, einigten sich Deutschland und die Tschechoslowakei auf einen 99jährigen Vertrag, der nicht einmal während des Dritten Reiches gebrochen wurde und heute noch Gültigkeit besitzt. In dem Vertrag verpflichtete sich Deutschland, drei Hafenbecken und ein 28.000 Quadratmeter großes Areal im Hamburger Hafen an die Tschechen zu verpachten. Die kleine Halbinsel am Peutehafen wurde an die Tschechen verkauft. In dem Wohnhaus leben heute acht leitende Angestellte der CSPL mit ihren Familien.

„Viel Privatleben haben wir hier nicht. Tagsüber arbeiten wir zusammen. Abends wohnen wir gemeinsam in dem Haus im Hafen, weit weg von jedem Wohngebiet“, sagt Schiffsoberinspektor Jiri Trpisovsky und sieht gedankenverloren auf die Europakarte in seinem Büro. Sein Arbeitsplatz befindet sich in einem nüchternen Verwaltungsgebäude am „Saalehafen 49“. Von dort aus lenken 30 Angestellte der CSPL rund 165 Schiffseinheiten über die Wasserstraßen zwischen der Tschechischen Republik und Westeuropa.

Insgesamt beschäftigt die Firma in Hamburg rund 200 Menschen, viele davon sind Saisonarbeiter. Eine Hälfte der Belegschaft ist deutsch, die andere tschechisch. „Wir leben auf einer Insel. Die Angestellten der CSPL bleiben vier bis fünf Jahre in Hamburg und gehen dann wieder zurück nach Hause. Deshalb fühlen sich die meisten hier wie auf einer langen Dienstreise“, sagt Jiri Trpisovsky ohne Bedauern in der Stimme. Der Tscheche arbeitet schon zum zweiten Mal in Deutschland und kennt den Betrieb und das Lebensgefühl seiner Kollegen wie kein anderer.

„Unsere Kinder sehen mehr von Hamburg. Mein Sohn und meine Tochter besuchen eine deutsche Schule. Von 480 Schülern dort sind 440 Ausländer. Seit neuestem spricht mein Sohn mit russischem Akzent, vorher lernte er türkisch. Und kürzlich sprach er bei uns zu Hause tschechisch mit einem Inder, der zwei Jahre lang in Prag lebte.“ Der Familienvater lächelt vor sich hin: „Ich finde es gut, daß meine Kinder so weltoffen aufwachsen. Ich selbst habe als Deckmann vor 17 Jahren bei einem deutschen Kapitän gelernt“.

Trpisovsky nutzt jede Gelegenheit, aus dem Büro zu kommen und persönlich nach dem Rechten zu sehen. Draußen am Hafenbecken vor dem Verwaltungsgebäude der CSPL wird aus einer Schubwanne gerade Kakao von der Elfenbeinküste ausgeladen. Dahinter im Hafenbecken sind viele Schuten, einige leere Schubeinheiten und ein Schiff vertäut, das aussieht wie ein großer grauer Schuhkarton. „Unser Clubschiff“, verrät Jiri Trpisovsky und zwinkert mit den Augen.

Die hölzerne Gangway führt über das brackige Wasser des Hafenbeckens ins Innere des „Clubschiffs Praha“. Auf dem Oberdeck, in einer Art Duty-Free Shop, schlürfen tschechische Schiffer heißen Kaffee. Im Raum nebenan haben sich einige Lastwagenfahrer aus dem Hafen zum ersten Pilsener Urquell des Tages versammelt. Es ist elf Uhr morgens. Um diese Zeit duftet schon das Mittagessen aus der Kantinenküche des Schiffs. Auf dem Gasherd kocht Szegediner Gulasch, die Köchin schneidet die berühmten böhmischen Hefeknödel in Scheiben. Im Unterdeck zwei Tanzsäle mit einer unnachahmlichen Einrichtung aus der Zeit des Sozialismus. Heute bleiben die Säle meistens leer.

„Früher war hier etwas los“, erinnert sich Jiri Trpisovsky an die Zeit, als die Mannschaften allesamt auf das Clubschiff „Praha“ kamen, um dort zu duschen, zu essen und zu feiern. „Heute bleiben die Binnenschiffer auf ihren eigenen Schiffen. Küche, Fernsehen, Dusche – sie haben dort alles, was sie brauchen. Das Clubschiff dient nur noch als Kantine“, sagt der Oberinspektor nachdenklich.

Früher war alles anders. Vor fünf Jahren gab es noch den „Eisernen Vorhang“, die Elbe floß mitten hindurch. Deutschland war gespalten in Ost und West und die Tschechoslowakei vereint. Die CSPL war ein Staatsmonopol, ihre Schiffe übernahmen den Großteil des Handels auf der Elbe. Massengüter wie Eisen und Stahl, Düngemittel und keramische Erzeugnisse kamen aus der Tschechoslowa-kei nach Hamburg. Heute ist die CSPL eine private Firma, nur noch 0,2 Prozent der Aktien gehören dem Staat.

Um 20 Prozent sank das Transportaufkommen der Binnenreederei und immer mehr Schiffe unter tschechischer Flagge lassen Hamburg links liegen. Die Tschechen fahren heute zunehmend nach Rotterdam, Amsterdam und Bremen, weil diese Häfen billiger sind als Hamburg. Hinzu kommen die Trennung der Tschechen und der Slowaken, die Konkurrenz durch ostdeutsche Binnenschiffer und rigide Sparmaßnahmen in dem ehemals sozialistischen Betrieb. Von 4200 Beschäftigten der CSPL wurden 1300 entlassen.

Einen weiteren Nachteil für ihre Firma sehen die Tschechen im schlechten Ausbau der Elbe. Mit 1154 Kilometer Länge ist die Elbe der drittgrößte Strom in Deutschland, aber gleichzeitig der am schlechtesten regulierte für die Binnenschifffahrt, sagen die Tschechen.

Auf tschechischer Seite ist der Fluß durch Staustufen und Schleusen bereits vollständig geregelt. Auf deutscher Seite dagegen führt die Elbe oft so wenig Wasser, daß in den Sommermonaten der Schiffsverkehr komplett eingestellt werden muß. Schon in den 60er Jahren hat die CSPL versucht, sich so gut wie möglich an die niedrigen Wasserstände des Stroms anzupassen. Die Reederei stellte den größten Teil ihrer Flotte auf Schubschiffe um. Die „Schuber“ fahren noch bei einem Meter Wassertiefe. Sie sind aber im Vergleich zu anderen Schiffstypen viel langsamer.

Bisher reagierte die Bundesregierung äußerst zurückhaltend auf die Forderung der Tschechen nach einem Ausbau der Elbe. Denn um die rund 600 Kilometer auf deutscher Seite zu regulieren, sind mehrere Milliarden Mark erforderlich, schätzt CSPL-Geschäftsführer Dobromil Dostal. Für die dringendsten Arbeiten und um der guten Beziehungen zum tschechischen Nachbarn willen sind von deutscher Seite bisher lediglich 500 Millionen Mark zugesagt. Angesichts der wichtigen Wasserwege nach Berlin und den sich öffnenden Märkten im Osten Europas eine viel zu geringe Summe, schätzt Dostal. Seine Perspektive: „Wir hoffen auf einen Kompromiß.

Wenn die Fahrrinne in der Elbe durchschnittlich um 30 Zentimeter tiefer ausgebaggert würde, wäre das für uns schon ein gewaltiger Schritt nach vorne“. Die Elbe als Rennstrecke, Milliarden aus der Steuerkasse – die deutschen Naturschützer, die den Rhein-Donau-Kanal nicht wegprotestieren konnten, wollen dieses Mal auf keinen Fall überhört werden.

Die größten Auenwälder Europas entlang der Elbe sind bedroht, wenn der Fluß ausgebaut wird. Der Grundwasserspiegel hebt sich und Stieleichen, Eschen, Reiher, Schwarzstörche, Fisch- und Seeadler sterben aus im Biosphärenreservat „Mittlere Elbe“ an der Saalemündung, prognostizieren die Naturschützer. Außerdem würden Baggerarbeiten giftige Schwermetalle aus DDR-Zeiten am Elbgrund wieder aufwirbeln.

Die tschechischen Binnenschiffer halten dagegen, daß es aus ökologischer Sicht keine Alternative zur Binnenschiffahrt gebe: Kein Beförderungsmittel transportiere Massengüter billiger und sauberer. Darüber sind sich alle europäischen Binnenschiffer einig. Eine Pferdestärke befördere im Wasser 4.000 Kilo Güter, auf der Schiene 500 Kilo und auf der Straße nur 150 Kilo. Dabei werde auf den Schiffen weniger Abgase in die Umwelt geblasen, als bei Eisenbahn und Brummis. Ausgerechnet die schmutzigsten Transporteure, die LKWs, haben ihre Gütermenge in den vergangenen 20 Jahren um das Eineinhalbfache erhöht. Bundesbahn und Binnenschiffahrt transportieren in etwa gleichviel wie vor 20 Jahren.

Das Schicksal der Elbe entscheidet letztendlich das Bundesverkehrsministerium. Bisher werden dort allerdings nur Pläne gewälzt: „Die Phase der Voruntersuchungen für einen Elbausbau ist noch nicht abgeschlossen“. Bevor die erste Baggerschaufel zugreift, wird also noch einige Zeit vergehen: Elbe und tschechische Insel im Hamburger Hafen bleiben vorerst wie sie sind. Um die Zukunft machen sich die Tschechen ohnehin wenig Sorgen: „Bei meinem letzten Treffen mit Politikern des Hamburger Senats wurde unser 99jähriger Vertrag noch einmal von beiden Seiten wärmstens unterstützt“, sagt CSPL-Chef Dostal zufrieden. Und was geschieht nach 2028? „Dann, hat man mir gesagt, werden wir keinen Vertrag mehr brauchen. Dann wird die Tschechische Republik sowieso längst Mitglied der Europäischen Union sein“.

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