Nachschlag

■ „Wo ist Sezuan heute?“ – fragt sich die Volksbühne

Brechts Sezuan gibt es nicht mehr. Die Götter haben sich zurückgezogen, die gute Shen Te hat sich öffentlich zu ihrem anderen Ich, dem knallharten Geschäftsmann Shui Ta, bekannt und macht jetzt mit dem reichen Friseur Shu Fu gemeinsame Sache. Zusammen produzieren sie, was das Zeug hält. Denn Shen Te ist als Widergängerin ohne Substanz zurückgekehrt – die Industrie hat sich ihre Kleidung übergezogen und ihrer Insignien bemächtigt. Unternehmen sind heute nicht nur profitabel, sondern auch gut und engagieren sich für den Regenwald, für Frösche, Schildkröten und hungernde Kinder. Ohne Moral läuft nichts mehr in der Wirtschaft. Bewußtseins-Marketing und unsere durch Medien geprägte Wahrnehmung lassen uns längst nicht mehr Produkte, sondern Profile kaufen. Der „ethische“ Markt nimmt sich aller nur möglichen gesellschaftlichen Mißstände an und gestaltet unser Verhalten dabei als seine Kommunikation. Eine schöne neue Welt, die (fast) keinen Widerstand ermöglicht, weil der Markt ihn schon längst für sich selbst produktiv gemacht hat.

So oder so ähnlich referierte es am vergangenen Freitag der Feuilletonredakteur und Buchautor Mark Siemons unter dem Motto „Die Welt retten, Spaß haben und dabei Geld verdienen“ auf einer Podiumsdiskussion in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Die Frage „Wo liegt Sezuan heute?“ überdachten mit ihm die Theaterkritiker Ernst Schuhmacher und Christof Funke, der Dramaturg Karl Hegemann und der Regisseur Andreas Kriegenburg, der besagtes Stück inszenierte. Die Ansicht, daß wir Sezuan abgeschafft haben, mochte Ernst Schuhmacher nicht teilen. Für ihn liegt dieser ominöse Ort direkt vor den Toren der Volksbühne – in den dort von Obdachlosen errichteten Baracken (beziehungsweise in allen Baracken der Welt). Und daß sich das in Kriegenburgs Inszenierung des „Guten Menschen von Sezuan“ nicht widerspiegelt, ist seiner Ansicht nach bedauerlich und außerordentlich kritisierenswert. Für Christof Funke wiederum liegt Sezuan nicht vor, sondern in der Volksbühne: Dort hat es Kriegenburg schließlich auf die Bühne gebracht. Als eine bedrückende Erinnerung an einen vergangenen Zustand – den inzwischen geschichtlich gewordenen, gespaltenen Menschen.

Warum Schuhmachers Einklagen von sozialer Schärfe, Betroffenheit und Wille zur Veränderung genauso auch von einem Hoechst-Manager kommen könnte; warum es interessant ist, daß die Zigarettenmarke West sich in ein Kölner Theater einkauft und die Volksbühne eine Zigarettenmarke „Ost“ kreiert hat; warum die Werbung des Theaters am Rosa-Luxemburg-Platz anders funktioniert, weil die Volksbühne gewissermaßen „quer“ im Zwangskorsett der Verwertung liegt, und last not least warum man an der Volksbühne auch schlechte Inszenierungen mögen kann – davon ein anderes Mal. Michaela Schlagenwerth