: Wirtschaft und Armut wachsen
Argentiniens Regierung versucht, die Ökonomie mit Rezepten der 30er Jahre zu „modernisieren“ / Die Weltbank spendet Applaus ■ Aus Buenos Aires Astrid Prange
Nach fünf Jahren neoliberalem Wirtschaftskurs ist Argentinien dabei, sich in ein Paradies für Unternehmer zu verwandeln. Durch massive Privatisierung befinden sich mittlerweile beinahe alle staatlichen Monopole in privater Hand, die Landeswährung ist stabil, die Wirtschaft wächst, und der öffentliche Haushalt ist saniert. Die Weltbank bescheinigt dem Land am Rio de la Plata „einen bemerkenswerten Fortschritt“.
Der „bemerkenswerte Fortschritt“ besteht in der Gehorsamkeit Argentiniens gegenüber der internationalen Finanzwelt. Wirtschaftsminister Domingo Cavallo, der im April 1991 sein Amt antrat, setzte in seiner Heimat brav das von ihm in Harvard erworbene Wirtschaftswissen um: Im Namen der Sanierung der öffentlichen Finanzen und der Inflationsbekämpfung koppelte er die Landeswährung Peso im Wert von eins zu eins an den US-Dollar, verkaufte bis auf Argentiniens Atomkraftwerke sämtliche Staatsbetriebe, setzte Tausende von öffentlichen Angestellten und Beamten auf die Straße und öffnete zur Freude der Vereinigten Staaten den Markt für Importprodukte.
Die Konsequenz: Seit 1990 hat sich die Einfuhr vervierfacht – im vergangenen Jahr registrierte Argentiniens Außenhandelsbilanz ein Rekorddefizit von 3,7 Milliarden Dollar. Die Textil-, Papier- und Chemieindustrien erlitten einen brutalen Einbruch, der weitere Argentinier den Arbeitsplatz kostete. Die Dollarisierung wirkte sich auch negativ auf das Exportgeschäft aus: Sie verteuert nicht nur die Lebenshaltungs- und Produktionskosten innerhalb des Landes, sondern verschlechtert auch die Absatzchancen für die künstlich überbewerteten argentinischen Produkte auf dem Weltmarkt.
„Um den hohen Dollar zu kompensieren, senkt die Regierung für die Unternehmer die Produktionskosten“, erklärt Pablo Bustos von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Buenos Aires. Sozialleistungen würden gestrichen, Löhne gesenkt und die Steuern zu Lasten der Allgemeinheit umverteilt. „Der Plan Cavallo ist eine echte Revolution“, meint der Wirtschaftswissenschaftler Bustos. Jetzt würde es mit dem Kapitalismus ernst.
Wie „ernst“ es Argentiniens Wirtschaftsminister Domingo Cavallo mit seiner Umstrukturierung meint, bekommen in erster Linie die Verlierer der Reform, die Arbeitslosen, zu spüren. Seit seinem Amtsantritt ist die Zahl der Argentinier ohne Beschäftigung nach Angaben der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik, Cepal, um drei auf 9,5 Prozent gestiegen. Weitere zehn Prozent versuchen, sich im informellen Sektor durchzuschlagen.
Diejenigen, die trotz Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und der Privatisierungen noch in Lohn und Brot stehen, sehen die Kaufkraft ihrer Löhne dahinschwinden. Durch die Dollarisierung avancierte Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires nach Tokio zur teuersten Stadt weltweit. Im Vergleich zu 1980 ist nach Cepal-Berechnungen der Mindestlohn in Argentinien, rund 200 Dollar, nur noch die Hälfte wert. „Die Schlußfolgerung ist einfach: Noch nie gab es so viele Arme wie jetzt, und noch nie waren die Armen so arm wie jetzt“, empört sich Wirtschaftswissenschaftler Jorge Schvarzer.
Solche Einwände bringen Wirtschaftsminister Domingo Cavallo zum Rasen. „Die Wirtschaftsreform ist die einzige Möglichkeit, das Problem der Armut zu lösen“, verteidigte er sich kürzlich auf dem Jahrestreffen der Interamerikanischen Entwicklungsbank (Bid) im mexikanischen Guadalajara. Die zahlreichen Aufstände in den Provinzen im Norden des Landes, wo unzufriedene Beamte und Bauern Regierungsgebäude und Landtage stürmten, würden das Modell an sich nicht in Frage stellen. „Der Protest richtet sich gegen die Korruption und die schlechte Verwaltung“, ist der Minister überzeugt.
In Guadalajara pries Cavallo seine Heimat gegenüber anwesenden Investoren in rosaroten Tönen an: Einmal ganz abgesehen von der geringen Inflationsrate (1993: 7,3 Prozent), habe das Wirtschaftswachstum in Argentinien seit seinem Amtsantritt um 25 Prozent zugelegt. Die Statistik bestätigt Cavallos Behauptung, verheimlicht jedoch, daß der Boom am Rio de la Plata in erster Linie von der Bau- und Elektrobranche sowie dem Automobilsektor getragen wurde.
Vernachlässigt werden in den offiziellen Tabellen auch die Arbeitslosen. „Nur eine enorm dynamische Wirtschaft könnte die Masse der Ausgestoßenen wieder absorbieren“ – aber niemals ein geschrumpftes Argentinien, das sich anschicke, das Produktionsniveau von 1987 zurückzuerobern, schreibt Jorge Schvarzer.
Doch auch gegen das Übel der Arbeitslosigkeit haben Argentiniens Präsident Menem und sein Gefährte Cavallo bereits ein Patentrezept ausgemacht: Es gilt, die Lohnkosten zu senken. Traditionelle Angestelltenverhältnisse werden bald der Vergangenheit angehören. Arbeitnehmer sollen künftig nur noch mit Zeitverträgen angestellt werden. Ihre Beiträge für Renten- und Krankenversicherung müssen sie selbst zahlen, ein Anrecht auf Ferien haben sie aufgrund der Kurzzeitverträge nicht.
Seit vergangenem Sonntag ist die „Modernisierung und Flexibilisierung“ der Arbeitnehmergesetzgebung, wie sie die Unternehmer fordern, beschlossene Sache. Der Triumph von Menems Anhängern in der „Partido Justicialista“ (PJ) bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung am 12. April macht die Veränderung der argentinischen „Magna Charta“ zugunsten von Unternehmerinteressen unvermeidlich.
„Die Unternehmer wollen uns einreden, daß die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten an der Wettbewerbsunfähigkeit argentinischer Produkte schuld sind“, empört sich Lorenzo Miguel, Generalsekretär der argentinischen Metallergewerkschaft (UOM). Die grausame Wahrheit sei jedoch, daß der Lohn eines Arbeiters noch nicht einmal zum Lebensunterhalt einer Familie reiche. „Auf Kosten der Arbeiter und mit Hilfe der sogenannten Flexibilisierung wollen die Unternehmer ihre eigene Unfähigkeit verschleiern“, ist der Gewerkschaftler überzeugt.
Pablo Bustos bestätigt frustriert, daß die Regierung Menem dabei ist, die bisher fortschrittlichste Arbeitnehmergesetzgebung Lateinamerikas auf den Stand von 1930 zurückzuschrauben. „Es ist ein Zugeständnis an die Realität“, so der Wirtschaftswissenschaftler. „Schon jetzt hält sich keiner an die progressive Gesetzgebung.“
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