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taz-Serie (Teil 5): Neue Arbeitszeitmodelle – Abschied von der Fünftagewoche / Viele selbstverwaltete Betriebe tun sich schwer bei Verkürzung der Arbeitszeit, obwohl sie herrschender Ökonomie kritisch gegenüberstehen / Auch sie müssen auf kapitalistischem Markt bestehen / 40-Stunden-Woche ist normal Von Hannes Koch

„Arbeit soll gesund sein für Körper und Geist“

Die regelmäßige tägliche Arbeitszeit und die freien Wochenenden sind auslaufende Modelle. Einige Unternehmen arbeiten bereits am Samstag und Sonntag – um die Maschinen besser auszulasten und konkurrenzfähig zu sein. Dieser Flexibilisierung steht die Gewerkschaftsforderung nach Verkürzung der Arbeitszeit gegenüber. Absicht und Hoffnung: Existierende Arbeitsplätze werden gesichert und neue geschaffen. In der Praxis gehen beide Strategien meist eine enge Verbindung ein. Wem die neuen Arbeitszeitmodelle dienen und wie sie in der Praxis funktionieren, hat die taz jetzt am Beispiel von Berliner Betrieben und Verwaltungen untersucht.

Wenn Ben vom selbstverwalteten „Sanitärbetrieb Lokus“ um acht Uhr morgens in seinen Montagewagen steigt, beginnt der Arbeitstag. Doch die eigentliche Arbeit muß noch warten. Erst geht die Fahrt quer durch die ganze Stadt zur Baustelle. Der Weg vom Bezirk Neukölln, wo das 1981 gegründete Kollektiv sein Domizil hat, bis nach Charlottenburg oder Spandau dauert nicht selten eine Stunde, denn Staus sind an der Tagesordnung. Und dann heißt es Schleppen: Ben greift sich Schweißgerät, Werkzeuge, Rohre und bringt alles zum Ort seines Wirkens. Seit der Abfahrt sind nun anderthalb Stunden vergangen. Jetzt erst beginnt die produktive Arbeit, für die der Sanitärbetrieb bezahlt wird: Rohre legen, Toiletten einbauen, Heizungen anschließen. Anfahrt und Aufbau sind dagegen zwar notwendige, aber unproduktive Nebenleistungen.

Damit sich der Arbeitstag rentiert, darf die Zeitspanne des eigentlichen Geldverdienens nicht zu kurz sein. Das setzt der Möglichkeit zur Arbeitszeitverkürzung enge Grenzen: „Wenn die Anfahrt eine Stunde dauert und der Aufbau eine halbe, kann man nicht drei Stunden später nach Hause fahren“, meint „Lokus“-Mitglied Rudi Büttner. Im Gegenteil: „Je länger man auf der Baustelle arbeitet, desto besser – außer man wird müde.“ Das gilt auch für den gesamten Betrieb: Kontrollbesuche auf Baustellen, Absprachen mit anderen HandwerkerInnen und Bürokram nehmen so viel Zeit in Anspruch, daß die Dauer der produktiven Arbeit nicht beliebig reduziert werden kann. An radikale Arbeitszeitverkürzung ist nicht zu denken.

So dauert der tägliche Arbeitstag bei „Lokus“ selten weniger als acht Stunden, die wöchentliche Arbeitszeit der InstallateurInnen liegt im Durchschnitt knapp unter 40 Stunden pro Woche. Kollektivist Büttner: „Als wir anfingen, haben wir an 30 Stunden gedacht, aber nach einem Jahr war klar, daß daraus nichts wird.“

Ähnlich beim Kreuzberger Betrieb „Räderwerk“: Auch den FahrradmechanikerInnen hat der Druck der kapitalistischen Ökonomie einige Flausen aus den Köpfen getrieben. Während früher neun bis zwölf Leute eine bunte Mischung von Arbeitszeitmodellen praktizierten, arbeiten drei der vier Gesellschafter heute „eher 45 Stunden pro Woche“, wie Räderwerker Ingo Lenz sagt. In den sommerlichen Stoßzeiten ist die Werkstatt bis abends um neun Uhr geöffnet. Nur ein Gesellschafter kommt mit durchschnittlich 28 Stunden davon. Den Übergang zu tendenziell längeren Arbeitszeiten führt Ingo Lenz darauf zurück, daß bei der früher üblichen kurzen Arbeitsdauer die organisatorischen Reibungsverluste zu groß waren. Ein Beispiel: Wenn ein Kollektivmitglied wegen verkürzter Arbeitszeit eine komplizierte Fahrradreparatur nicht zu Ende bringen könne, müsse jemand anders einspringen. Die Folge sei dann, daß bereits erledigte Arbeiten wiederholt oder falsche Teile angebaut würden. „Nur ein ausgeklügeltes Informationssystem kann das verhindern. Aber das ist nicht machbar.“ Bei radikal verkürzter Arbeitszeit sinke die Produktivität, was angesichts des ohnehin nicht üppigen Lohnes von 17.50 Mark brutto pro Stunde nur schwer zu verschmerzen sei.

So bietet sich ein paradoxes Bild: In den traditionellen Wirtschaftszweigen mit ihren kapitalistischen Besitzverhältnissen bekommt die Arbeitszeitdebatte eine neue Dynamik – nicht zuletzt durch die Arbeitszeitverkürzung bei Volkswagen auf 28,8 Wochenstunden. Auch in anderen Firmen rückt die 30-Stunden-Woche in greifbare Nähe.

Viele selbstverwaltete Betriebe dagegen können die Arbeitszeit nicht verkürzen, obwohl sie der herrschenden Ökonomie kritisch gegenüberstehen. Produktivität und Ertrag dieser Betriebe würden sonst zu sehr absinken, und sie könnten auf dem kapitalistischen Markt nicht bestehen. Uti Hennecke, Projekt- und Betriebsberaterin beim Berliner Verein Stattwerke, schätzt, daß die meisten gewinnorientierten Projekte mehr als 40 Wochenstunden arbeiten.

Einen Grund sieht Uti Hennecke darin, daß viele Kollektive „nicht in expansiven Branchen tätig sind“. Sanitärunternehmen, Schreinereien, Fahrradläden und Bäckereien „laufen zwar ganz gut, aber der Riesenzuwachs beim Umsatz bleibt aus“ – anders als etwa im Computerbereich. Die selbstverwalteten Betriebe erwirtschaften eher schmale Erträge, und die MitarbeiterInnen wollen die mit verkürzter Arbeitszeit verbundene Lohnsenkung nicht hinnehmen.

Zudem leisten sich die Kollektive einige Abweichungen von der betriebswirtschaftlichen Norm. Selbstverwaltung heißt: gemeinsamer Besitz der Produktionsmittel und gemeinschaftliche Entscheidungen über die Unternehmenspolitik. Doch Plena und Kollektivsitzungen brauchen Zeit, und während der Arbeitsabläufe tritt weiterer Klärungsbedarf auf. Das alles kann sich nachteilig auf Produktivität und Flexibilität auswirken.

Installateur Ben von „Lokus“ gibt ein Beispiel, warum sein Betrieb trotzdem auf den zeitraubenden Luxus in der Arbeitsorganisation nicht verzichten will. Von der Baustelle fährt Ben oft selbst ins Büro, um den Papierkram zu erledigen, obwohl ein spezialisierter Mitarbeiter die Arbeiten am Schreibtisch schneller bewältigen könnte. Das würde aber zur Arbeitsteilung in Kopf- und Handarbeit und „zu einer Hierarchie führen, die wir nicht wollen“, so der Installateur.

Wenn viele Kollektive schon nicht an vorderster Front im Kampf um Arbeitszeit-Reduzierung stehen, so haben die meisten einen entscheidenden Vorteil gegenüber herkömmlichen Unternehmen: Es ist viel leichter, die eigene Zeit nach wirtschaftlichem Bedarf und eigenen Wünschen flexibel einzuteilen. „Nur die festgelegte Bauzeit muß eingehalten werden. Wie der einzelne das hinkriegt, ist sein Problem“, meint „Lokus“-Kollektivist Rudi Büttner. Wer sich Donnerstag und Freitag nicht in der Lage fühlt, die Baustelle aufzusuchen, muß am Wochenende ran. „Wenn ökonomisch machbar, ist es auch entschieden leichter, die Stundenzahl zu reduzieren“, meint Betriebsberaterin Hennecke – alles Folgen der Abwesenheit eines Chefs im selbstverwalteten Betrieb.

Doch es gibt Kollektive, in denen deutlich weniger gearbeitet wird. Sybille etwa betritt die Backstube der Vollkornbäckerei „Mehlwurm“ in Neukölln erst kurz vor sechs Uhr morgens. Das ist außergewöhnlich spät im Vergleich zu anderen Bäckereien, die seit drei Uhr den Teig kneten. Kollegin Heike meint, „die Arbeit soll gesund sein für Körper und Geist“. Die Selbstbeschränkung hat freilich ihren Preis: Wenn die Mehlwürmer früher aus ihren Löchern kröchen, könnten sie mehr Brot herstellen und mehr verdienen. Philosophie des Unternehmens ist es jedoch, „freiwillig klein zu bleiben“.

Auch die wöchentliche Arbeitszeit der neun KollektivistInnen ist äußerst human. Sie beläuft sich auf durchschnittlich 30 Stunden individuell aufgeteilt in achtstündige Back- und sechsstündige Verkaufsschichten. Obwohl eine Sitzung des Kollektivplenums alle zwei Wochen als Arbeitszeit angerechnet wird, zahlt „Mehlwurm“ ungefähr den Tariflohn.

Trotz der nahezu paradiesischen Zustände rentiert sich das Brotbacken, weil der Betrieb im Laufe der Jahre seine Technik entscheidend verbessert hat. Kommt der LKW, wird das Getreide durch Rohre in Silos hinter der Backstube gesaugt, rutscht durch Leitungen in die Mühle im Keller, um schließlich automatisch in die Teigknetmaschine befördert zu werden. Das erspart das anstrengende Säckeschleppen und macht die Arbeit produktiver. Die dadurch erwirtschafteten Mehreinnahmen geben „Mehlwurm“ die Möglichkeit, die Arbeitszeit zu reduzieren. So funktioniert die Betriebswirtschaft allerdings nur in selbstverwalteten Betrieben. Heike: „In normalen Bäckereien ist das anders – da steckt der Chef den Gewinn ein.“ Hannes Koch

Die letzte Folge der Serie erscheint Ende nächster Woche.

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