: Un certain Monsieur Paul Touvier
■ Zur Kulturgeschichte der nationalistischen Haßformen im Nachbarland Frankreich, die Autor Pierre Birnbaum auch episodisch-essayistisch erzählt
Eine junge Frau geht zur Schule. Die Schulleitung verbietet ihr – sie ist Muslimin – den Schleier. Der Aufschrei „Rassismus“ gellt durch das Land, und eine Nation steht kopf. Französische Katholiken sehen sich in ihren Religionsrechten diskriminiert. Der Staat besteht auf der Trennung von Staat und Kirche, Schule und Religion. Der Tschador bedroht die laizistische Grundlage eines Staates, die Ergebnisse der Französischen Revolution selbst. Und eben diese sind es, denen der Schlachtruf „Frankreich den Franzosen“ gilt. Pierre Birnbaum zeichnet das große Panorama einer zerrissenen „Grande Nation“, die die Erschütterungen der Revolution bis heute nicht auffangen konnte, die sich von der III. Republik bis zur deutschen Besatzung in franko-französischen Kriegen erging, die sich von der Bartholomäusnacht von 1572 bis zur „Front National“ von heute gegen die „Konföderation der vier Staaten“ (Charles Maurras 1912), die gelegentlich neu definierten Feinde im Inneren, wendet: Hugenotten, Freimaurer, Juden und die „métèques“. Wenn das katholische Frankreich sich im eigenen Land bedrängt fühlt, mutiert auch der „edle Araber“ der Kolonialliteratur mit Erhalt der Bürgerrechte zur Bedrohung der Kultur. Mehr als nur Kapriolen einer Kolonialmacht.
Haß im Plural könnte Pogrom meinen. Birnbaums „Geschichte der nationalistischen Haßformen“ lauscht jedoch den feineren Tönen, der Literatur, der Presse, den Liedern, der „Banalität des Bösen“ wie er schreibt. Es geht um die extreme Rechte; ihn interessiert jedoch vor allem die Grauzone zwischen bürgerlicher Reputierlichkeit, konservativem Katholizismus und militantem Nationalismus.
Symptomatisch ist ein Paul Touvier, der sich der Justiz seit 1944 im Schutze der Kirche entziehen konnte. Der ehemalige Informationschef der „Französischen Miliz“ kommentiert den diese Woche mit einem Lebenslänglich-Urteil abgeschlossenen Prozeß gegen sich („Verbrechen gegen die Menschlichkeit“) mit den Worten: „Die Juden wollen mein Fell.“ Erneut lastet der Alp der Kollaboration auf den Feierlichkeiten der großen Legende der „Selbstbefreiung von Paris“ von 1944, denn der Helfer der Gestapo kann sich mit seiner Haltung auf eine lange Tradition berufen. Es geht unverändert gegen das rationalistische und individualistische, das laizistische Frankreich, das 1791 den Juden und nunmehr den Immigranten das Bürgerrecht – la citoyennété – verleiht, das das Kreuz aus den Schulen verdrängt, aber den Schleier zuläßt. Die Gefahr personifiziert sich in den „Juifs d'État“, vom Regierungschef der Zwischenkriegszeit, Léon Blum, bis zu Simone Veil.
Birnbaum führt in kleinen Aufsätzen, fast literarisch, durch das Geschehen. Er verfolgt den Weg „von den Vorurteilen zum Haß“. Er benennt die alten Wurzeln der franko-französischen Kriege in dem Widerstreit intransigenter „katholischer Identität mit dem allgemeinen Wahlrecht“, das überlieferte Bilder hierarchischer Weltordnung brechen mußte. Er porträtiert jenes Klima der Jahrhundertwende, in dem Vordenker des französischen Nationalismus, wie Charles Maurras, Maurice Barrès und Édouard Drumont, die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ erfolgreich lancieren konnten. Eine dramatische, fast romanhafte Schilderung aus den Pariser Quartiers von 1902 läßt die Stimmung jener Tage der nationalistischen Wahlkampagne erahnen. Es ist jenes Frankreich zur Zeit des Hochverratsprozesses gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus. Noch im Februar 1994 mußte der Leiter der historischen Abteilung der Landstreitkräfte, Oberst Paul Gaujac, seinen Stuhl für die bloße Bemerkung räumen, die Unschuld des Hauptmanns Dreyfus sei unter Historikern heute allgemein akzeptiert.
Wunderbar, mag man meinen, bei denen ist es also auch nicht besser. Und dann haben die noch den Le Pen, der doch viel stärker ist als hier die Rechtsradikalen. Irrtum. Denn die Revolution hat gewonnen. Der Laizismus ist Praxis und die citoyennété wird – anders als in Deutschland – nicht nur gewährt, sondern ist auch der Eintritt in den „État-Nation“, ohne daß deswegen die Mitgliedschaft in einer „Volksgemeinschaft“, die vollständige kulturelle Assimilation, verlangt wird.
Nachdem die Revolution nach Deutschland exportiert worden war, Ironie der Geschichte, hat die bedrängte französische Seele, l'Ûme française, aus Herder und der deutschen Romantik die Idee einer kulturellen Identität ihres Volkes extrahiert und mit dem gegenrevolutionären Katholizismus verschmolzen. Der heutige Nationalismus einer Front National wird, als zweites, nachgezogenes Bein neben dem Katholizismus reaktionärer Prägung zum einigenden Band der Opposition – der Verlierer von 1789 – gegenüber dem letztlich unangefochtenen nationalistischen État-Nation von heute.
Ein Nationalismus, der in Frankreich nicht vom Staat ausgeht, sondern sich gegen ihn richtet? Frankreich, eine „politische Gemeinschaft“, die Einwanderer aufnimmt, Minderheiten ihre Herkunft beläßt, aber die souveräne Kontrolle des Bildungswesens beansprucht und diese auch nicht mit der Kirche teilt? Im Gegensatz hierzu, Deutschland, eine „kulturelle Gemeinschaft“? Der deutsche Staat als Garant dieser quasi biologisch definierten Gesellschaft, die auch ImmigrantInnen der dritten Generation die Staatsbürgerschaft verweigert? Und deswegen gegen nationalistische Angriffe nicht gefeit ist? Wenn hierin die Erklärung für die relative Schwäche der deutschen nationalistischen Rechten im Vergleich zur Front National besteht, ist Birnbaums eindringliche Darstellung nationalistischen Hasses in Frankreich nur für uns beunruhigend.
Birnbaums kurzer theoretischer Exkurs besagt mehr über Frankreich als über Deutschland. Es geht um Verständnis und Selbstverständnis der vielzitierten und wenig verstandenen „Culture Française“. Birnbaum liefert keine trockene Analyse, er läßt die Personen sprechen, er beschreibt, wie es einer Kulturgeschichte gut ansteht. Kein einfaches Buch. Eine gute Übersetzung ist gefragt. Martin Raschke
Pierre Birnbaum: „La France aux Français. Histoire des haines nationalistes“. Editions du Seuil, Paris 1993, 396 S., 140 Francs
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