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Mit Margarete Schreinemakers live ins Jenseits (Donnerstag, 21.15 Uhr, Sat.1)

Vollkommen aufgelöst rief meine Mutter bei mir an: „Der Umschalder geht nemmäh. Isch kann nur noch s' Erste gugge. Isch will aber die Ilona Christen sehen.“ Mit viel Verständnis für das Recht auf visuelle Grundversorgung fuhr ich sofort in jene Vorstadt Frankfurts, in der am 1. April 1963 das ZDF seinen Sendebetrieb aufgenommen hatte, und legte die Batterien der Fernbedienung meiner Mutter richtig herum ein. Sie schaltete um, und ich sah Gelb: Die TV- Blüte Ilona Christen talkte mit einigen Leuten über deren „frühere Leben“.

Irritiert nahm ich Platz und verwundert zur Kenntnis, daß dieser Reinkarnations-Schleim keinesfalls mit Reiner Holbe endgültig entsorgt worden war. Wir erinnern uns: Mit einer investigativen Glanzleistung stellte Günter Jauch vor etwa eineinhalb Jahren in „Stern TV“ (RTL) fest, daß Holbe in seiner Esoterik-Show „Phantastische Phänomene“ (Sat.1) einem löffelbiegenden Scharlatan aufgesessen war. Der Tod einer Idee schien greifbar nahe.

Aber man hätte es sich denken können, daß die Esoterik nicht totzukriegen ist, geht es doch um das Leben vor dem Tod, an das die Hälfte der Deutschen glaubt. An den Tod selbst, den in Goražde, glauben bestimmt weniger. Je mehr die Sinne vor der Wirklichkeit verschlossen werden, desto gefragter ist das Übersinnliche. Da kann auch das Fräuleinwunder, Margarete Schreinemakers, nicht hinten anstehen. Von Trutz Hardo ließ sie sich „rückführen“.

Die Berliner Gazette B.Z. hatte dieses Ereignis am Tag vor der Ausstrahlung ordentlich promotet: Margarete hieß einst Barbara, die „um 1700“ so sehr hungerte, daß sie Tapeten essen mußte. Das „Experiment“ wurde kurz vor der Sendung mit Testpersonen wiederholt, die dann live vor der Kamera über gestörte Wirklichkeitswahrnehmungen plauderten. Eine junge Frau faselte von einer schmerzvollen Geburt im Dschungel. Überzeugt und ergriffen sah sie dabei aus, als berichtete sie von einem Brandanschlag gegen Verwandte: eine Irre.

Eskapismus kann man Frau Schreinemakers allerdings nicht vorwerfen. Sprach sie doch auf dem Weg in die Vergangenheit zuvor noch ganz diesseitig mit Peter Enderle aus dem Vorstand der Adam Opel AG über die Krise der Autoindustrie. Der thematische Bogen schloß sich dann mit eingänglichen Gesprächen über das Schnarchen und die durch Lärmbelästigung verursachte nächtliche Völker- bzw. Partnerwanderung: Wer schnarcht, der schläft und ist folglich entspannt. Entspannung (welch gelungene Überleitung) ist wiederum die Vorbedingung für die erfolgreiche „Rückführung“ in vergangene Leben.

Es sei hier nachgetragen, daß das Experiment der Rückführung tatsächlich glückte. Mit der Ausstrahlung einer Kindergärtnerin und ihrer an Stimmbruch erinnernden Kieksestimme hat Frau Schreinemakers das TV-Publikum kollektiv „rückgeführt“ – nicht in frühere Leben, sondern ins Kindesalter. Ein gefahrvolles Unterfangen: Denn als Kinder sind sie vor dem Fernseher besonders gefährdet. Wegen des Nachahmungseffektes, der in der Gewaltdebatte entdeckt wurde, werden alle Deutschen jetzt Tapeten essen. Muß mal wieder bei meiner Mutter vorbeischauen. Manfred Riepe/Ausriß: „B.Z.“

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