■ Press-Schlag: Der Kaiser und das verwunschene Tor
Je mehr Haare Franz Beckenbauer verliert, desto größere fußballerische Weisheit macht sich unmittelbar darunter bemerkbar. Der Interims-Trainer der Münchner Bayern entwickelt sich immer rasanter zu jenem Mann, der die Dinge im deutschen Fußball auf den Punkt bringt. Als es um Hitlers Geburtstagsfeier im Berliner Olympiastadion ging, erwies er sich als einzig bei Sinnen befindlicher Prophet in der fußballerischen Geisteswüste und plädierte entschieden für eine Absage des Länderspiels gegen England. Der Nationalmannschaft riet er, doch lieber in Australien statt in Abu Dhabi zu spielen, dann könnte man noch ein wenig länger fliegen. Und auch in der Frage des verwunschenen Tores beim 2:1 der Bayern gegen den 1. FC Nürnberg legte er den Finger direktemang auf sämtliche offenen Wunden. „In zwei Minuten“ hätten „die alten Herren beim DFB“, die sechs Stunden für ihre Entscheidung, das Match zu wiederholen, benötigten, dieses Urteil eigentlich fällen müssen, stichelte der ungnädige Kaiser und diagnostizierte im selben Atemzug eine akute „Wettbewerbsverzerrung“.
In der Tat. Mal vorausgesetzt, daß der schüchterne und etwas unwürdige Protest des SC Freiburg beim DFB kein Gehör findet, könnten sich einige seltsame Konstellationen ergeben, bevor am 3. oder 4. Mai die Franken erneut die Füße mit den Bayern kreuzen. So könnte es geschehen, daß die Nürnberger sich bereits am Samstag endgültig vor dem Abstieg retten, was ihre Motivation und möglicherweise Konstitution vor dem möglicherweise meisterschaftsentscheidenden Spiel im Münchner Olympiastadion stark beeinträchtigen dürfte. Oder es könnte sich herausstellen, daß beiden Teams ein Unentschieden zum Erreichen ihres jeweiligen Ziels genügt, was umgehend düstere Erinnerungen an ein gewisses Gijón heraufbeschwören würde.
Andererseits hat Beckenbauer nicht unrecht, wenn er beklagt, daß seine Mannschaft nun drei Spiele in acht Tagen hätte, während sich die Pfälzer Konkurrenz auf die Bärenhaut legen kann. Die einzig adäquate Lösung kommt ebenfalls vom wilden Kaiser aus Kitzbühel: Verlegung der beiden letzten Bundesliga-Spieltage um jeweils eine Woche, womit er gleichzeitig bezüglich WM-Vorbereitung dem Bundestrainer Berti Vogts eins ausgewischt hätte, der Lothar Matthäus und Thomas Helmer – trotz gegenteiliger Absprache – eisern in Arabien gefangenhielt. Daß am 14. Mai auch das Pokalendspiel in Berlin stattfindet, kann getrost vernachlässigt werden. Originalton Franz Beckenbauer: „Wen interessiert schon das Pokalfinale zwischen Werder Bremen und Rot-Weiß Essen?“
Ein weiterer Aspekt des Urteils ist die allgemein erwartete Flut von Protesten nach mißratenen „Tatsachenentscheidungen“. Der VfB Stuttgart hat mit seinem aberwitzigen Kreuzzug gegen den unkorrekt ausgeführten Herzog-Freistoß beim 0:5 in Bremen vorgeführt, wozu Bundesliga-Clubs fähig sind, und MSV-Duisburg-Präsident Dieter Fischdick fallen „auf Anhieb ein Paar tausend Fehlentscheidungen“ ein, die „das Stigma der Rechtswidrigkeit auf der Stirn tragen“, wie es Sven Oberhof, Boß des 1. FC Nürnberg, so unvergleichlich zu formulieren pflegt. Nicht nur Lothar Matthäus denkt da an die in den USA übliche „Videoüberwachung“. Doch diese wird in Deutschland nicht funktionieren, wie kartoffeläugige Sat.-1- Reporter Woche für Woche beweisen, die nach sechsmaliger Ansicht der Superzeitlupe klare Elfmeter munter als Schwalben und meterweise Abseitsstellungen als gleiche Höhe definieren. Das Untor von München, das muß man ihnen zugute halten, haben allerdings selbst sie als solches identifiziert.
Bleibt also nur noch eine Lösung: Macht die Bälle größer! Wenn das Spielgerät, sagen wir, den Umfang des Bauches von Luciano Pavarotti hätte, könnte man vermutlich sogar Maulwürfe als Linienrichter einsetzen. Matti Lieske
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