: Das Schweigen der Lämmer
Im pastoralen Deutschland, das immer von Herdentrieb und Hirtensehnsucht gekennzeichnet war, wird seltsam lahm auf die Krise reagiert ■ Von Wolfgang Fach
Industrieländer sind gerade im Umbruch. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern; doch ihre Melodie tönt von Land zu Land anders. Aus Frankreich etwa hört man, daß alles drunter und drüber gehe. „Un krach social“ steht ins Haus, dafür sprechen alarmierende Anzeichen: „Vorstädte, die ihren Haß hinausschreien. Eine Regierung, die nicht so recht weiß, wie sie auf die tiefe Angst der Franzosen reagieren soll. Gewerkschaften, die das Feuer schüren. Das Gemisch erscheint explosiv, und die Ereignisse des Mai 68 spucken in allen Köpfen“ (L'Express, 17.3.94). Gekrönt wurde dies durch Ausschreitungen Zehntausender Jugendlicher, die in Paris und anderswo das öffentliche Leben stillgelegt haben, weil sie mit der staatlichen Arbeitsmarktpolitik nicht zufrieden waren und bei dieser Gelegenheit gleich noch ein paar offene Rechnungen mit dem Establishment begleichen wollten. Der Regierung blieb am Ende nichts anderes übrig, als nachzugeben.
Doch war das nur der vorläufige Höhepunkt einer ganzen Reihe militanter Zuspitzungen, die seit einiger Zeit den staatlichen Spar- und Reformkurs begleiten: Angehörige des öffentlichen Dienstes sind massenhaft auf die Straße gegangen, und Air-France-Angestellte haben die Pariser Flugplätze besetzt; 600.000 Franzosen sind aus Ärger über das Schulwesen nach Paris gezogen; kurze Zeit später haben aufgebrachte Atlantikfischer ein historisches Palais in Brand gesetzt, und den gesamten März hielten schließlich die revoltierenden Jugendlichen Frankreich in Atem.
So kann eine Gesellschaft des Umbruchs ins Schlingern kommen – auch, ja gerade wenn sie von konservativen Eliten in die modernen Zeiten eingeführt werden soll. Und was passiert hierzulande, unter vergleichbaren Bedingungen?
Vom Gipfelpunkt sozialer Gewalt war dieser Tage in den Gazetten zu lesen: „Dritte DruckSchlichtung endet mit Eklat. Gespräch nach Faustschlag eines Betriebsrates gegen Arbeitgebervertreter abgebrochen.“ Ein schwarzes Schaf schlägt aus und aus der Art. Die anderen Lämmer schweigen, ordnen sich fromm hinter geschäftigen Funktionären ein, deren unbeeindrucktes Interesse der „sehr komplexen Verhandlungsmaterie“ gilt (Süddeutsche Zeitung, 19.4.94). Sicher, bis die Hirten ihre Schäflein auf dem neuen Weidegrund haben, werden sie noch gehörig über Gangart oder Wegstrecke streiten, doch darüber nie das gemeinsame Anliegen, den „Standort“, vergessen und im übrigen durch rituelle Händel der zeichenversessenen Herde vor Augen führen, wie „leidenschaftlich“ ihnen zumute ist.
Wonach das frische Grün schmeckt, darauf gibt es schon mal einen Vorgeschmack. Der „Volkswagen-Schock“ (Le Monde) hat eine Tarif-Kostprobe geliefert: weniger Gras für mehr Schafe, dafür bleibt die Herde vorläufig auf ihrer derzeitigen Größe. Einmal mehr staunen unsere Nachbarn: „la leçon allemande“ (L'Express) wird ihnen erteilt, eine Lektion in freiwilligem Verzicht um des sozialverträglichen Fortschritts willen. Und einmal mehr gibt es wenig Hoffnung, daß man die Deutschen darin irgendwann einmal überflügeln könnte. Schon nachzuhinken fällt dem französischen Volksgeist schwer genug.
Den Keim des deutschen Erfolgs hat schon Friedrich Nietzsche in seinen Landsleuten entdeckt: sie sind eben – „Herdentiere“. Doch ist das nur die halbe Wahrheit. Tüchtige Schäfer müssen her. Das „pastorale“ Amt ist, man weiß es von alters her, sehr anspruchsvoll. Der gute Hirte versammelt und führt seine Tierchen; er sorgt für sie insgesamt, ohne das einzelne darüber zu vergessen; er versteht Macht als Dienst an der Herde und kennt seine umfassende Verantwortung – Lämmer bedürfen zeit ihres Weide-Lebens der unablässigen, detaillierten, gegebenenfalls auch strengen Obhut. Historisch hat, auch dies weiß man, der pastorale Gedanke nirgends mehr Anklang gefunden als unter deutschen Potentaten. Ihre modernen Erben sind vom gleichen Geist durchdrungen, wiewohl andere Zeiten andere Sitten erfordern: korporatistische Arrangements zwischen Staats- und Sozialpartnern haben die kameralistischen Direktiven aufgeklärter Fürsten demokratiekonform abgelöst. So fügt sich eins zum andern, gehorsame Schafe paaren sich mit pflichtbewußten Schäfern: das „Modell Deutschland“, auf seinen Kern zurückgeführt. Freilich, die Realität hält nicht immer, was das Ideal verspricht. Lämmer werden zwar nie rebellieren, doch werden sie, nachlässig behütet, leicht in allzu lahmen Trott verfallen. Und wenn es den Hirten am guten Willen nicht fehlt, so sind doch einige vom Amt überfordert. Denn während unsere Schäfer den Schafen Beine machen („organisierte Flexibilität“), läßt ihre Bilanz zu wünschen übrig: „Es geht darum“, so eine aktuelle Fehleranalyse, „daß Staat und Wirtschaft das geistige Klima und die Rahmenbedingungen schaffen, unter denen es für die Unternehmen möglich und attraktiv wird, in die neuen Hochtechnologieindustrien zu investieren.“ Hinkende Hüter aber sind die wirkliche Achillesferse des pastoralen Regimes. Deshalb wird nicht „unser“ Schnellzug exportiert, sondern der französische. Trotz allem.
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