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Der Preis der Nicht-Reform

■ Interview mit Oskar Negt zu Massenarbeitslosigkeit, Krise der Arbeitsgesellschaft und einer neuen Gesellschaftsreform / Den Kapitalismus beim Namen nennen!

Oskar Negt lehrt Soziologie an der Universität Hannover. In seinem 1987 erschienen Buch „Lebendige Arbeit, enteignete Zeit“ hat Negt die Bedingungen für das Reich der Freiheit benannt: die Befreiung der Lebenszeit von gesellschaftlich überflüssiger Arbeit(szeit) und die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen.

taz: Sie haben die Massenarbeitslosigkeit als einen Anschlag auf die körperliche und seelisch- geistige Integrität des Menschen bezeichnet. Warum?

Oskar Negt: Die meisten Menschen empfinden Arbeitslosigkeit nach wie vor als Gewaltakt. Daher halte ich Massenarbeitslosigkeit für den Grundskandal unserer Gesellschaft, weil sie außerstande ist, Millionen Menschen das zivilisatorische Minimum für eine menschliche Existenz zu garantieren. Wir leben schließlich nicht in einer armen Gesellschaft, sondern in einer, die an ihrem Reichtum und ihrer Überschußproduktion zu ersticken droht. Gesellschaftlicher Reichtum ist nicht mehr an Mehrarbeit und mehr Produktion gebunden.

Ohne Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums keine Umverteilung der Arbeit?

Es ist höchste Zeit, die bereits in den 80er Jahren ansatzweise geführten Debatten über die notwendige Strukturveränderung der Arbeitsgesellschaft wiederaufzunehmen. Arbeitslosigkeit kann aber nicht länger in den traditionellen Wellenlininen von Konjunktur und Rezession lokalisiert werden; sie ist davon weitgehend abgekoppelt. Wir haben es mit einer chronischen Freisetzung lebendiger Arbeit in den industriellen Produktionszentren zu tun. Ein Arbeitsplatz wird neu geschaffen, drei andere werden vernichtet.

Die Frage ist doch, was passiert mit einer Gesellschaft, deren zentrales Integrationselement, die Arbeit, langsam, aber sicher ihre Bedeutung verliert?

Zunächst einmal weisen alle Untersuchungen der Arbeitslosigkeit darauf hin, daß die Selbstwertgefühle der Menschen stark von der Arbeit abhängen. Diejenigen, die zwangsweise ihren Arbeitsplatz verlieren, messen selbst entfremdeter Arbeit noch hohen Wert bei. Wir befinden uns eben nicht in einer bloßen Kommunikationsgesellschaft. Zweifellos ist Arbeit nicht mehr die dominierende Sozialisations- und Bildungsinstanz. Dem lebensweltlichen Zusammenhang kommt inzwischen eine viel größere Bedeutung zu. Aber dabei hat die kritische Bewertung von Arbeit, der Wunsch nach Eigentätigkeit, Eigenproduktion, Mitbestimmung und Partizipation zugenommen. Arbeit hat also ihre Bedeutung noch lange nicht verloren.

Gefährdet nicht die Massenarbeitslosigkeit den gesellschaftlichen Konsens?

Es bildet sich eine Zweidrittelgesellschaft heraus, in der die Menschen, die arbeiten wollen und können, zunehmend vom geltenden Wertesystem Arbeit und Leistung abgekoppelt werden. Das hat gravierende politische Folgen, denn diese Menschen sind auf Dauer nicht mit Fernsehen ruhigzustellen. Solange es möglich war, diesen Menschen durch Umverteilung einen einigermaßen würdigen Lebensstandard zu sichern, hatte das keine Folgen für die demokratische Struktur. Doch dabei muß man berücksichtigen, daß erst der Sozialstaat die Loyalität der westdeutschen Bevölkerung zur politischen Struktur der westlichen Demokratie erzeugte. Wo dieser wieder demontiert, wo das von kulturellen und sozialen Hemmungen befreite Kapital wieder räuberischer wird, besteht durchaus die Gefahr, daß rechte Massenbewegungen wieder ihre Führer finden. Italien ist ein Beispiel dafür, daß die alte Mitte, die so etwas wie ein Minimum eines demokratisch-bürgerlichen Konsenses sicherte, von heute auf morgen zusammenbrechen kann.

Halten Sie das Problem der Massenarbeitslosigkeit überhaupt für lösbar?

Nur wenn wir erkennen, daß die von kapitalorientierten Produktions- und Verwertungsregeln geprägte Arbeits- und Erwerbsgesellschaft an ihrem Ende angelangt ist. Sie aufrechtzuerhalten wird immer teurer, am Ende unbezahlbar. Die Alternative zum System bürgerlicher Erwerbsarbeit ist aber nicht der illusionäre Idealismus der Aufhebung von Arbeit. Wir müssen ganz andere gesellschaftlich anerkannte Formen der Arbeit entwickeln, die stärker auf das Wohl des Gemeinwesens und auf die Bedürfnisse der Menschen nach Selbstverwirklichung und Emanzipation ausgerichtet sind.

Andere Vordenker glauben aber, das Potential der arbeitsgesellschaftlichen Utopie sei erschöpft.

Im Unterschied zu André Gorz glaube ich, daß der Mensch eine erhebliche Portion von Arbeitsbedürfnissen hat. Sicher braucht er Kommunikation, Selbstverwirklichung, aber er will sich auch gegenständlich auseinandersetzen, sich in seinen Produkten wiedererkennen. Für mich ist Arbeit etwas Umfassendes: Es ist gegenständliche Tätigkeit im Sinne des Arbeitsbegriffs von Hegel und Marx. Die Utopie von nicht entfremdeter Arbeit und von der Aufhebung der entfremdeten Arbeit ist noch lange nicht ausgeschöpft.

Wo liegen die Ansatzpunkte?

Was die Arbeitsgesellschaft, das Erwerbssystem betrifft, müßte eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 oder 25 Stunden erfolgen. Die 35-Stunden-Woche reicht da nicht aus. Aber es reicht auch nicht, die Reduzierung der Arbeitszeit auf die industriellen Produktionszentren zu beziehen, wenn nicht zusätzliche Massenarbeitslosigkeit erzeugt werden soll. Siemens beispielsweise hat ausgerechnet, daß sie in zehn Jahren mit einem Drittel des Personals das Vielfache produzieren werden.

Als zweites wird eine Umgestaltung der Lebensarbeitszeit zu mehr Flexibilität nötig sein, meinetwegen über Hortung von Arbeitsstunden und längere Unterbrechungen. Und drittens: Tätigkeiten wie Beziehungs-, Sozialisations- und Erziehungsarbeit, künstlerische Arbeit oder Pflege der Umwelt, die keinen Mehrwert schöpfen und nicht rationalisierbar sind, müssen einen anderen Stellenwert gewinnen.

Nun kritisiert Gorz an Ihnen, es sei fatal, weiter so zu tun, als sei Arbeit – gemeint ist Erwerbsarbeit – stofflich gestaltende Arbeit.

Sicher ist im Umgang mit technischen Apparaten ein gewisser Abstraktionsprozeß gegenüber der stofflichen, handwerklichen Tätigkeit vorhanden. Trotzdem glaube ich, daß selbst in den fortgeschrittensten Industrien immer auch Elemente des kompetenten Umgangs mit Gegenständen das definieren, was die Menschen als ernsthaften Ausdruck ihrer Subjektivität betrachten. Das ist nicht stofflos, auch Kommunikation hat etwas Gegenständliches. Die ganze Psychoanalyse beruht doch darauf, Blöcke im Psychischen aufzulösen, die zum Teil viel gegenständlichere Kraft als ein Betonblock haben.

Nicht wenige glauben, an die Stelle der traditionellen Arbeitskultur könne eine Kultur der Freizeit treten.

Diese Hoffnung würde auch ich vertreten. Nur hat sie so zahlreiche Bedingungen, daß ich derzeit keine Möglichkeit sehe, einfach so aus dieser Kultur der Arbeitsgesellschaft herauszuspringen.

Wo liegen die Steine im Weg?

Die Menschen müßten mußefähig werden, um mit der gewonnenen Freizeit auch etwas anzufangen. Das bedarf nicht nur freier Zeit, sondern auch befreiter Zeit. Von der Logik der industriellen Produktion befreite Zeit müßte die Zeitstrukturen der Lebensbeziehungen selbst verändern. Wer mit hohen Raten von Ausbeutung und Selbstausbeutung in die Produktionsmaschinerie eingebunden ist, der neigt zu einem Fortsetzungsverhalten in der freien Zeit. So werden beispielsweise Leistungskriterien in die Freizeit übertragen, dafür gibt es viele Angebote. Oder nehmen wir die kultivierte Passivität durch die Medien. Ich habe meine Zweifel, ob aus dieser außengeleiteten Kultur innengeleitete Menschen und autonome Bürger herauskommen. Die Zeitrichtung ist die gleiche wie die von Gorz, nur glaube ich, daß es eines gewaltigen Transformationsprozesses bedarf, um sich aus dieser Arbeitsgesellschaft zu verabschieden, der bestimmt noch 100 Jahre in Anspruch nehmen wird.

Sie werfen Gorz moralischen Idealismus vor, weil er sich auf die Schwerkraft der Verhältnisse nicht mehr einlasse.

Man kann, wie es Gorz vorschwebt, die Produktion, das Reich der Notwendigkeit nicht einfach abkoppeln. Diejenigen, die über die materiellen Mittel für diese Produktion verfügen, die Eigentümer, üben Macht und Herrschaft aus – auch über das Reich der Freiheit. Die Frage der Macht ist aber entscheidend: Wer besitzt was und wieviel, und wer verfügt damit auch über andere Menschen. Ich stelle mir eine Welt, in der sich Konzerne wie Siemens oder Daimler-Benz die Macht teilen, ziemlich schlimm vor. Das ist nicht meine Utopie, hier bin ich entschiedener Aufklärer.

Wir reden über Risikogesellschaft, über Erlebnis-, Freizeit- oder Protestgesellschaft, aber nicht über Kapitalismus – dabei handelt es sich doch um letztlich eine kapitalistische Gesellschaftsordnung! Das Wort Kapitalismus muß wieder ein Gewicht bekommen. Jetzt fehlt ihm das Feindbild, deshalb beginnt er den Feind im Innern zu konstruieren.

Herauskommen aus dem Kapitalismus und dann wohin?

Es ist auch eine neue Volkswirtschaft, eine „Ökonomie des ganzen Hauses“, notwendig. Der Glaube, wenn es Volkwagen, Mercedes oder Siemens gutgehe, gehe es der ganzen Gesellschaft gut, ist ein gewaltiger Irrtum. In dieser Gesellschaft werden die Kosten laufend verschoben: Das Arbeitslosengeld wird gekürzt, dadurch werden die Kommunen bis an die Grenzen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit belastet. Es wird am Bildungssystem gespart, dafür braucht man mehr Polizei, mehr Gefängnisse und psychiatrische Einrichtungen. Und nicht nur das. Wir können in den industriell fortgeschrittenen Nationen auch nicht weitermachen wie bisher, weil das Gefälle zu den Entwicklungsländern immer größer wird. Im kommunikativen Zeitalter, wo der Westen durchs Fernsehen direkt in die Favelas, die Elendsquartiere, eindringt, werden die explosiven Brandherde in der Welt zunehmen. Daher muß es ein Eigeninteresse des Westens sein, eine Ökonomie zu entwickeln, die ihnen Entwicklungschancen gibt. Das geht nur noch im Weltmaßstab.

Besteht nicht die Gefahr, daß der Aufschwung die gerade erst begonnene Debatte um den gesellschaftlichen Reformbedarf schnell beendet und sich nichts bewegt?

Die Gefahr besteht zweifellos. Doch die Erfahrung zeigt, daß nichts teurer ist, als überholte Verhältnisse am Leben zu erhalten, daß nichts teurer ist als die Nicht- Reform. Aber es geht auch um die politische Moral, um die Verantwortung von Intellektuellen, Wirtschaftsleuten, Politikern. Ihre zunehmende Empfindungslosigkeit gegenüber den Widersprüchen und Verhältnissen dieser Gesellschaft ist Ausdruck eines Kältestroms, der durch die Gesellschaft zieht.

Wie finden wir aus der gegenwärtigen Krise heraus?

Die Wachstumsideologie ist mit einer strukturellen Entwertung dessen verbunden, was einmal geschaffen wurde. Der Modernisierungsprozeß liegt in einer dynamischen Beschleunigung der Entwertung des Alten. Offene Bedürfnisspirale auf der einen und offene Produktionsspirale auf der anderen Seite sind an ein kulturelles Ende gelangt. Beide Ebenen müssen innegehalten, angehalten werden, um zu einer anderen Zeitstruktur zu kommen. Ökonomische und ökologische, kulturelle und moralische Probleme sind so miteinander verflochten, daß wir wieder ein gesellschaftliches Gesamtprojekt ins Bewußtsein rücken müssen, das diesem Kontext gerecht wird.

Interview: Erwin Single

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