: In Tower Hamlets geht die Angst um
Bei den heutigen Kommunalwahlen könnten die Nazis von der British National Party (BNP) zusätzliche Stadtratssitze im Londoner Eastend gewinnen / Der Rassismus nimmt zu ■ Aus London Ralf Sotscheck
Es ist ein Uhr mittags. Aus dem Alberta House dringen Geruchsschwaden von exotischen Gewürzen und scharf gebratenem Fleisch. Im Hof des rechtwinkligen, fünfgeschossigen Wohnblocks aus den zwanziger Jahren spielen bengalische Kinder mit Teppichresten. In der Ecke führt ein Treppenhaus zu den langgestreckten Balkonen, von denen die blauen Eingangstüren abgehen. Sie führen in kleine Drei- und Vierzimmerwohnungen mit winzigen Kochnischen, die man vom Balkon aus durch das Fenster neben der Wohnungstür einsehen kann.
Das Alberta House ist ein Sozialbau am Ostrand der Isle of Dogs, dem ehemaligen Londoner Welthafen, der auf drei Seiten von der Themse begrenzt wird. Im Norden sitzt wie ein Korken auf der flaschenförmigen Halbinsel die postmoderne Bürostadt Canary Wharf, an der so viele Bauunternehmer pleite gegangen sind.
Seit Ende der achtziger Jahre sind viele Familien aus Bangladesch in die heruntergekommenen Siedlungen im Schatten der gläsernen Bürobauten eingezogen. Er wohne seit drei Jahren mit seiner Frau und drei Kindern da oben, sagt Chadik Khan, ein kleiner dünner Mann um die Vierzig. Er zeigt auf den Balkon im dritten Stock, auf dessen brauner Klinkerwand mit weißer Farbe groß die Zahl 17 sowie ein Pfeil aufgemalt sind. Eine Orientierungshilfe für Besucher der Siedlung.
Vorher hatte die Familie in Stepney gewohnt, das ebenfalls zum Bezirk Tower Hamlets im Eastend gehört. Khan zählt in gebrochenem Englisch die jüngsten rassistischen Überfälle auf der Hundeinsel: ein Sechzehnjähriger, der auf dem Weg zur Moschee zusammengeschlagen worden ist; ein Siebzehnjähriger, dem eine Meute von fünfzehn bis zwanzig weißen Jugendlichen die Hand zertreten hat; ein Autofahrer, der an einer roten Ampel aus seinem Wagen gezerrt und verprügelt worden ist.
„Zur Zeit ist es etwas ruhiger“, sagt Khan. „Das liegt daran, daß die Nazis bei den Wahlen ihren Sitz verteidigen und möglichst noch ein oder zwei hinzugewinnen wollen. Danach geht es wahrscheinlich wieder rund.“
Heute sind in Schottland und Teilen von England und Wales Kommunalwahlen. Das Hauptaugenmerk ist auf das Abschneiden der Torys gerichtet, weil die Wahlen über die Zukunft von Premierminister John Major mit entscheiden. Aber mit ebensolcher Spannung wird der Urnengang in Tower Hamlets beobachtet.
Die Liberalen Demokraten, die im Stadtrat die Mehrheit stellen, haben den Bezirk in sieben nahezu autonome „Nachbarschaften“ unterteilt, die wiederum aus mehreren Wahlkreisen bestehen. In Millwall, das zur Labour- kontrollierten Nachbarschaft der Isle of Dogs gehört, haben die Nazis von der Minipartei „British National Party“ (BNP) bei einer Nachwahl im vergangenen September zum ersten Mal einen Sitz gewonnen und dadurch den Mythos zerstört, daß Großbritannien dank seines Mehrheitswahlrechts vor dem Einzug von Rechtsextremen in die Parlamente gefeit sei.
Freilich handelt es sich bei Derek Beackon, einem 47jährigen arbeitslosen Lastwagenfahrer, um einen besonders einfältigen Menschen, der den Holocaust leugnet, England den Weißen zurückgeben will und nur „normale englische Gerichte“ zu sich nimmt. Weil er sich bei Kurzinterviews regelmäßig selbst blamiert, halten seine Parteifreunde ihm die Medien vorsichtshalber vom Leib.
Dennoch geht bei den Bengalen die Angst um, daß die BNP heute auch die beiden anderen Stadtratssitze für Millwall gewinnt. „Das wäre nicht nur ein Propagandasieg, sondern würde der Partei außerdem den Haushaltstopf in Höhe von 23 Millionen Pfund bescheren“, sagt Khans Nachbar Achmed Azad, der seit 22 Jahren im Eastend lebt. Die BNP wäre dann nämlich praktisch die Bezirksverwaltung für die Isle of Dogs, die insgesamt fünf Sitze in Tower Hamlets stellt.
Nach Beackons Wahl haben sich die rassistischen Übergriffe auf der Hundeinsel verdreifacht. Wurden im Januar 1993 noch siebzehn Fälle gemeldet, so waren es in diesem Januar schon siebenundfünfzig. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer. In einem Bericht des britischen Innenministeriums heißt es, daß es 1992 landesweit „130.000 rassistische Zwischenfälle aller Art“ gab. Nur 8.000 dieser Fälle wurden der Polizei angezeigt.
Beängstigender noch als die steigende Zahl der rassistischen Angriffe ist ihr neuer Charakter: Anders als der spontane Rassismus der vergangenen fünfzehn Jahre sind die Attacken heute sorgfältig geplant und organisiert. Die Täter kommen nicht mehr aus Jugendbanden, sondern sie sind erwachsene Weiße um die Dreißig.
„Ich wohne seit achtzehn Jahren in dieser Gegend, aber solch eine Situation hat es hier noch nicht gegeben“, sagt der Rechtsanwalt Unmesh Desai, der 1981 eine lokale Anti-Rassismus-Organisation gegründet hat. „Wir stehen am Anfang einer neuen Phase im Eastend. Die rassistischen Angriffe sind jetzt institutionalisiert, aber es kümmert offenbar keinen.“
Hinter der neuen Art von Gewalt steckt „Combat 18“, eine Schlägertruppe, die 1991 zum Schutz von BNP-Veranstaltungen gegründet worden ist. Die Zahl 18 steht für den ersten und achten Buchstaben des Alphabets: A. H. – Adolf Hitler. Ihre Broschüre enthält das Übliche: Alle Nichtweißen müssen zurück nach Afrika, Asien und Arabien, Homosexuelle gehören hingerichtet, Juden in der Regierung und im öffentlichen Leben ausgemerzt. Zwar hat sich die BNP von ihren Beschützern inzwischen distanziert, doch nicht nur antifaschistische Organisationen glauben, daß das lediglich Wahltaktik sei. Beackon wurde jedenfalls bei einer „Combat 18“-Veranstaltung gesehen, wo er mit dem Hitlergruß salutierte.
Schon in den dreißiger Jahren hatten Oswald Mosley und seine Faschisten versucht, im Eastend Fuß zu fassen. Mit Kriegsbeginn nahm ihr Einfluß aber rapide ab. In den siebziger Jahren probierte es die „National Front“, doch auch sie konnte keinen Sitz gewinnen.
Ob die ausländerfeindliche Karte heute erneut sticht oder ob der BNP-Spuk wieder zu Ende geht, kann niemand voraussagen. Ted Johns, der in den sechziger Jahren Labour-Stadtrat war, bestreitet jedoch, daß die Bewohner der Hundeinsel Rassisten sind: „Das hier ist das letzte Cockney- Dorf, das ganze Eastend ist eine Ansammlung von unterschiedlichen Dörfern. Die Leute sprechen vom Eastend als großem Schmelztiegel. Das sagt sich natürlich leicht daher, damit man nichts unternehmen muß. Doch erst bescheinigen sie uns diesen wunderbaren Eastend-Geist, und im nächsten Augenblick sind wir alle Rassisten. In Wirklichkeit ist das hier wie ein Dampfkessel, und jede Gruppe von Neuankömmlingen muß sich erst mal behaupten.“
Das Eastend hat schon seit dem 17. Jahrhundert Immigranten angezogen: Zum einen war der Hafen in der Nähe, zum anderen gab es billige Wohnungen und Notunterkünfte. Mit der Zeit wurden die Einwanderer assimiliert – die hugenottischen Seidenweber, die deutschen Arbeiter in den Zuckerfabriken, die Iren, die vor der Hungersnot Mitte des vergangenen Jahrhunderts nach England flohen, die Chinesen in Limehouse nördlich der Isle of Dogs und die Juden, die um die Jahrhundertwende den Pogromen in Rußland, Polen und Rumänien entkommen waren.
Auch die Inder und Pakistani in England, die meist der Mittelklasse entstammen, oder die Afrikaner, die in der Regel ein hohes Bildungsniveau haben, sind viel stärker integriert als die Bengalen, die hauptsächlich aus der bäuerlichen Schicht stammen und in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren nach Tower Hamlets kamen. So werden sie, die Schwächsten in der Kette der Immigranten, zu Sündenböcken gemacht. „Anders als die Afrikaner reagierten sie äußerst unterwürfig auf die ersten rassistischen Übergriffe“, erinnert sich der Schriftsteller Jonathan Fryer. „Ihre Sprache war anders, sie trugen auffällige Kleidung, und sie waren klein. Sie schienen leichte Angriffsziele.“
Seit etwa fünf oder sechs Jahren kommen sie auch nach Millwall, wo sie inzwischen knapp zehn Prozent der Bewohner stellen. Andere ethnische Minderheiten gibt es hier fast gar nicht. Beackon schob den Bengalen das Wohnungsproblem in die Schuhe. 26.000 Namen stehen in Millwall auf der Warteliste. Das einzige Projekt im öffentlichen Wohnungsbau, das in den letzten zehn Jahren in Millwall gebaut wurde, ist Masthouse Terrace. Von den 185 Wohnungen gingen aber nur 39 an Bengalen. „Die BNP hat hier gewonnen, weil sie eine radikale Lösung vorgeschlagen hat“, meint Ted Johns. „Die Schwarzen sind schuld, haben sie gesagt, während alle anderen den Mund gehalten haben. Labour hat die Menschen auf dieser Insel im Stich gelassen, und ich schäme mich dafür.“
Der Wahlkampfleiter der Labour Party, Paul Jackson, sagt: „Es ist die Arbeitslosigkeit, die die Leute fertigmacht. In den Wohnsiedlungen hier liegt sie bei 27 Prozent. Die meisten Leute haben sich nicht von 1981 erholt, als der Hafen geschlossen wurde.“
Khan deutet auf die Mauer gegenüber vom Alberta House. „Das ist die Berliner Mauer“, sagt er. „Dahinter wohnen die Wessis. Wir sind die Ossis.“ Vom Balkon im zweiten Stock kann man über die Mauer sehen. Inmitten von Brachland steht der riesige futuristische Glasbau der Nachrichtenagentur Reuter. „Die Angestellten kommen mit der Reuter-eigenen Hovercraft-Fähre zur Arbeit, weil man auf der anderen Seite der Themse besser parken kann.“
Hinter dem Agenturgebäude hat man im ehemaligen Keller eines abgerissenen Lagerhauses einen Golfplatz angelegt, wo die Angestellten in der Mittagspause den Abschlag üben können. „Nichts verdeutlicht das Versagen der Politik besser als dieser Ort“, sagt John, ein Sozialarbeiter, der anonym bleiben möchte. „Wo früher zigtausend Menschen Arbeit hatten, spielen heute eine Handvoll Manager Golf.
Labour und die Liberalen haben dem rechten Anpassungsdruck längst nachgegeben, sie haben die Menschen hier auf der Hundeinsel längst abgeschrieben – von den Torys ganz zu schweigen. An wen sollen sich die Leute denn wenden? Die Stimme für die BNP ist eine Proteststimme gegen rechts wie links. Wenn die etablierten Parteien bei den Kommunalwahlen ihr blaues Wunder erleben, so haben sie sich das selbst zuzuschreiben. Sie haben aus Beackons Wahlsieg im September nichts gelernt.“
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