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Raus aus den intellektuellen Kleingärten

Zwei Inszenierungen des Hamburger Schauspielhauses repräsentieren das Konzept des neuen Intendanten  ■ Von Till Briegleb

Als die Berliner Volksbühne 1993 von den deutschsprachigen Kritikern zur Bühne des Jahres gewählt wurde, war es offensichtlich, daß hier mehr der künstlerische Mut von Frank Castorfs Team gewürdigt wurde, als daß ein Kontinuum hochwertiger Aufführungen Anlaß zu euphorischer Aufnahme gab. Ähnlich verhält es sich mit dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg unter seinem neuen Intendanten Frank Baumbauer, dem heimlichen Anwärter auf diesen Titel für 1994. Auch hier wurden mit Beginn der laufenden Spielzeit die Uhren neu gestellt. Mit einem jungen Team, herausfordernden Texten, ästhetischen Wagnissen und klar erkennbaren Positionen wollte der aus Basel an die Alster gekommene Baumbauer dem größten deutschen Sprechtheater einen neuen, dynamischen Charakter verleihen.

Nicht jede Inszenierung bisher war ein Erfolg, aber selbst bei wirklich mißlungenen Premieren, etwa Werner Schroeters Inszenierung von Kushners „Engel in Amerika“, war der Wille zu spüren, lieber auf hohem Niveau zu scheitern, als mit gehobenem Mittelmaß die Kassen vollzuspielen. Grundlage des neuen Erscheinungsbildes, dessen kommerzieller Erfolg mit etwas über 50 Prozent Platzausnutzung (bei 1.500 Plätzen an drei Spielorten) nach dem ersten halben Jahr durchaus erklecklich ist, ist das neue Credo des Hauses: „Theater muß anstrengend sein.“ Mit dieser Losung sucht sich Frank Baumbauer seine Theatermehrheit in der Musical-Stadt Hamburg nicht mehr wie seine Vorgänger in den intellektuellen Kleingärten des Mittelmaßes. Im Schauspielhaus meldet man sich jetzt auch politisch zu Wort, mit Videos, Lesungen und Podien unter anderem zu den Themen „Kunst und Aids“, „Legalisierung von Drogen“ oder „Abschiebungsstopp für serbische Deserteure“. Natürlich vergaß auch Frank Baumbauer das Zuckerbrot nicht ganz und ließ einige Klassiker (Shakespeares „Troilus und Cressida“, Kleists „Käthchen“) von Regie-Jungstars (Leander Haußmann, Matthias Hartmann) kulinarisch aufbereiten. Aber das Wesen der neuen Anziehungskraft bestimmten Autoren wie Elfriede Jelinek, Rainald Goetz, Herbert Achternbusch, Hans Henny Jahnn, Werner Schwab, Tony Kushner, Javier Tomeo, Tankred Dorst, Edward Bond und Fernando Pessoa sowie überwiegend jüngere Regisseure: neben den Genannten auch Anselm Weber, Jossi Wieler und – alle an Anziehungskraft übertrumpfend, wenn auch nicht mehr ganz so jung – Christoph Marthaler.

Marthalers „Goethes Faust Wurzel aus 1+2“, jetzt zum Theatertreffen eingeladen, ist der erste „Faust“ am Schauspielhaus seit Gründgens. Die Inszenierung setzt sich dem übermächtigen Vorbild erst gar nicht aus, sondern fesselt die Neugierde durch erinnerndes Schweifen. In einer für Marthaler typischen Monade – diesmal ist der Warteraum eine Mischung aus Schiff, Kirchenraum, wissenschaftlichem Labor und Lagerhalle eines Supermarktes mit eingemauerten Klavieren – sind Faust (Josef Bierbichler) und Mephisto (Siggie Schwientek) eingeschlossen mit einem Chor goethescher und nichtgoethescher Gestalten.

Tierpräparatoren werkeln vor sich hin, verfallen in Wiederholungszwänge, absurde Gesten oder aggressive Ausbrüche, vier Gretchen lesen Faust, diverse weitere Mephistos (unter anderem Ulrich Tukur) spielen Klavier oder versuchen in ritueller Gleichmäßigkeit erfolglos dem gespenstischen Treiben zu entfliehen. Singend und Textfetzen memorierend entwickelt sich zwischen dem traurig-müden Gespann und seiner schicksalsergebenen Umwelt eine Geschichte des Überlebens: Goethes Vorlage umspielend, elektrifiziert Marthaler laufend kleine Beobachtungen. Ticks, Reflexe, Gewohnheiten und Zwangshandlungen erzählen in dem kurzen Moment ihres Auftretens tragische Biografien des Gescheitertseins, wogegen die Musik die Hoffnung und die Sehnsucht nach dem unwiederbringlich Verlorenen, dem faustisch strebenden Geist, bewahrt. Die dreistündige Aufführung besitzt viel von jenem Marthaler-Vokabular, das man in Berlin schon aus „Murx ihn...“ und „Sturm“ kennt, findet aber hier ihre konzentrierteste und gelungenste Form.

Auch Jossi Wieler, der mit seiner Verarbeitung von Elfriede Jelineks „Wolken.Heim.“ eingeladen wurde, kam, wie Marthaler, mit Baumbauer aus Basel nach Hamburg. Sechs Fliegerwitwen treffen sich im Offizierssalon ihrer (gefallenen?) Gatten. Singend und deklamierend entfließen ihren Mündern die von Jelinek collagierten Texte zum deutschen Nationalismus. Die Spannbreite der Quellen – von der deutschen Romantik bis zur RAF – überträgt Wieler geschickt in ein fein austariertes Macht- und Beziehungsgeflecht zwischen den sechs Frauen, das vielfach entsetzlich komisch ist.

Beide Arbeiten geben einen guten Eindruck von jener neuen Theatersprache, welche die intensivsten Produktionen der Ära Baumbauer auszeichnet: die Komposition beeindruckender Bilder, die manisch detailbesessene Ausarbeitung von eigentümlichen Charakteren und Situationen, ein unverkrampftes Verhältnis zum Text, das mehr einem lyrischen Versenken in das Material gleicht, sowie das unbedingte Verlangen, etwas auf die heutige Zeit Bezogenes zu erschaffen, das jedem platten Symbolismus entsagt.

Aufführungen von „Goethes Faust Wurzel aus 1+2“ am 17./18. 5., 19.30 Uhr, im Schiller Theater, Bismarckstraße 110;

von „Wolken.Heim“ vom 10. bis 12. 5., 20 Uhr, im Ballhaus Rixdorf, Kottbusser Damm 76

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