Sie wollten nach Hause und wurden erschossen

Hamburg hatte schon kapituliert, als auf einem Marineboot Soldaten wegen Meuterei hingerichtet wurden  ■ Von Jürgen Karwelat

Es war buchstäblich „fünf nach zwölf“, als am 5. Mai 1945 elf Matrosen wegen Meuterei erschossen wurden. Begraben wurden sie in Ostre Kirkegaard in Sonderbørg/ Dänemark, etwa 20 Kilometer nördlich von Flensburg. Der Übersichtsplan des Friedhofes verzeichnet im Feld D „Tysk flygtninge“, also deutsche Flüchtlinge. Insgesamt 226 Tote sind dort beerdigt. – Es sind nicht nur aus dem Baltikum und Ostpreußen Geflohene, die auf dem Wege nach Dänemark oder nach ihrer Ankunft dort gestorben sind.

Sieben der Toten sind gemeinsam Anfang Mai 1945 umgekommen. Es handelte sich um Besatzungsmitglieder des Minensuchboots M612. Sie wurden in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 1945 wegen „militärischen Aufruhrs“ erschossen. – Und das obwohl schon zwei Tage zuvor, am 4. Mai 1945, die Kapitulation aller deutschen Streitkräfte im Norden Europas unterzeichnet worden war. Sie trat am Morgen des 5. Mai gegen 8 Uhr morgens in Kraft. Trotzdem fand am Abend des 5. Mai vor dem Hafen in Sonderbørg auf dem Schiff ein deutscher Kriegsgerichtsprozeß gegen die angeblichen Meuterer statt.

Während die Dänen in der Stadt die Niederlage der Besatzungsmacht feierten, wurden vor der Stadt die elf jungen Soldaten im Alter von 20 bis 24 Jahren erschossen und die Toten mit Torpedoteilen im Meer versenkt. Später wurden sieben Leichen an den Strand geschwemmt. Es war praktisch ihr erster Kriegseinsatz. Die Besatzung stammte aus ganz Deutschland, so auch der 1922 in Milaschew/Polen geborene Volksdeutsche Gustav Ritz, der erst 1940 als sogenannter Rückkehrer die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hatte. Wenige Wochen vor Kriegsende war das Minensuchboot in Dienst gestellt worden. Die M612, so die Bezeichnung des Bootes, startete am 25. April von Rostock, als Hitler-Deutschland praktisch schon besiegt war. Das Schiff unter Führung des Kommandanten Oberleutnant zur See Dietrich Kropp wurde nach Kiel verlegt. Das Schiff lag im Hafen, als am 3. Mai um 18.25 Uhr die Hansestadt Hamburg den Engländern praktisch kampflos übergeben wurde. Dennoch stach die M612 am Nachmittag dieses Tages in See. Es war die einsame und eigenmächtige Entscheidung des Kapitäns, der beabsichtigte, Truppen aus dem eingeschlossenen Kurland/Baltikum zu evakuieren. Auch der Hinweis des Kommandanten des Schwesterschiffs M601 bei einer Zwischenstation im Hafen von Sonderbørg: „Der Krieg ist zu Ende“, die „Aktion Kurland“ sei jetzt Quatsch, brachte den Kommandanten nicht von seinem Plan ab. Das Schiff setzte seine Fahrt bis nach Frederica fort, wo es am nächsten Morgen Kohlen für die Fahrt hätte bunkern sollen.

Als am 5. Mai morgens um 8.30 Uhr der Befehl zum Einlaufen in den Hafen gegeben wurde, setzten die Soldaten nach ihrem am Vorabend verabredeten Plan den Kommandanten und die Offiziere fest. Sie hatten durch die Funksprüche von der bedingungslosen Kapitulation gehört. Der Beschluß der Mannschaft unter Führung des 23jährigen Matrosen Heinrich Glasmacher, mit dem Schiff nach Kiel zu fahren, „nach Hause“, wie sie sagten, wurde für 11 der insgesamt 98 Besatzungsmitglieder zum Verhängnis. Während der Rückfahrt wurden sie von zwei Schnellboot-Begleitschiffen, eines davon die „Hermann von Wissmann“, eingeholt, denen sie auch bereitwillig erklärten, „nicht mitzuspielen. – Der Krieg ist ja aus.“ Daraufhin enterten die Schnellboot-Besatzungen die M612. Die Mannschaft ließ sich ohne Gegenwehr entwaffnen.

Ab 18.10 Uhr fand an Bord ein Standgericht statt, angeführt von Marine-Oberstabsrichter Dr. Franz Bernds. Beisitzer waren Korvettenkapitän Dr. Hans Bettenheimer und Oberbootsmaat Roeder. Die Urteile entsprachen den Anträgen des Anklägers Stabsrichter Adolf Holzwig. „Wegen „militärischen Aufruhrs“: in elf Fällen die Todesstrafe, viermal je drei Jahre Zuchthaus, fünf Freisprüche. Der Führer der Minensuchboote, Kapitän zur See Hugo Pahl, bestätigte am Abend die Urteile. Zwischen 23.35 und 1.00 Uhr deutscher Sommerzeit wurden die Soldaten durch ein Erschießungskommando auf Deck ihres Schiffes hingerichtet.

Auf den Feuerwerker Helmut Nuckelt wurden drei Salven abgefeuert. Drei oder vier der zum Tode Verurteilten bekamen von einem Offizier den „Fangschuß“, weil der Arzt es verlangt hatte. Die zu Zuchthaus Verurteilten mußten nach jeder Exekution das Deck vom Blut reinigen und die Leichen über Bord werfen.

Warum war dies alles möglich? Es sollte ein Exempel statuiert werden, um nicht weitere „Disziplinlosigkeiten“ entstehen zu lassen. Allein im Hafen von Sonderbørg lagen seinerzeit 3.000 Soldaten. Einen zweiten „Kieler Aufstand“ wie 1918 sollte es nicht geben. Die Armeeführung hatte außerdem die Hoffnung, einen Separatfrieden mit dem westlichen Alliierten schließen zu können, um anschließend gemeinsam gegen die kommunistische Sowjetunion zu kämpfen. Deswegen wurden die Soldaten, die einfach nach Hause wollten, mit aller Härte – selbst wenn es gegen das Recht war – bestraft.

Diejenigen, die an den Mord- Urteilen beteiligt waren, wurden nach dem Krieg dafür nicht bestraft.

Im Herbst 1945 erwirkten Eltern eines ermordeten Matrosen die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens gegen den Führer der Schnellboote, Kapitän Rudolf Petersen, und weitere sieben an der Exekution beteiligten Offiziere. Die Anklage lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ende Mai 1946 begann der Prozeß in Hamburg. Er endete mit fünf Freisprüchen und zwei Verurteilungen zu geringen Haftstrafen. Die beiden Verurteilten blieben auf freiem Fuß.

Die Hinterbliebenen erreichten, daß das Urteil im Herbst 1948 aufgehoben wurde und der „Fall Petersen“ zur erneuten Verhandlung kam. Im Juni 1949 begann der zweite Prozeß. Die Urteile erlangten keine Rechtsgültigkeit, da wiederum Rechtsmittel eingelegt wurden. Im November 1952 hob der Bundesgerichtshof alle Urteile im Fall „Petersen“ auf. Die Anklage hatte mit der Aufhebung des Kontrollratsgesetzes zur Aburteilung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ihre Rechtsgültigkeit verloren. Im dritten Prozeß, im Februar 1953, lautete die Anklage auf „Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag“. Alle Angeklagten wurden freigesprochen.

Gegen den Gerichtsherrn des Verfahrens und Führer der Minensuchboote, Hugo Pahl, wurde zwar 1950 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber dann eingestellt, nachdem Dönitz-Adjutant Walter Lüdde eidesstattlich erklärt hatte, er halte es für „absolut sicher“, daß Pahl nichts von der bedingungslosen Kapitulation gewußt habe. Sollten etwa die Matrosen besser informiert gewesen sein als der Kommandierende der Flotte? Pahl lebte unbehelligt als Fabrikant und Eigentümer der Heßler-Kalkwerke in Wiesloch/Baden-Württemberg. Dietrich Kropp, der Kommandant von M612, wurde nach dem Krieg Postoberinspektor in Bremen. Kapitän Petersen wurde nach dem Krieg Chef der Nautischen Abteilung im Hydrographischen Institut.

Die Morde an den jungen Soldaten sind in der Bundesrepublik lange Zeit kein Thema gewesen. Erst ein Bericht der Illustrierten Stern 1967 (Heft 47) deckte die Einzelheiten auf. Jetzt erst erfuhren viele Angehörige vom Schicksal ihrer Brüder und Väter. So auch Elsa Günzel aus Witten und Ida Gatz aus Helmstedt, die bis heute das Grab ihres erschossenen Bruders Gustav Ritz nicht besucht haben. Werner Nuckelt aus Essen, geboren im Dezember 1944, konnte seinen Vater Helmut Nuckelt, der in der Nacht des Waffenstillstandes erschossen worden war, nie kennenlernen. Er wuchs bei seinem Großvater auf.

In der DDR drehte Ende der 60er Jahre der Regisseur Frank Beyer einen fünfteiligen Dokumentarspielfilm mit dem Titel „Die Rottenknechte“, und der Schriftsteller Siegfried Lenz veröffentlichte 1984 sein Buch „Ein Kriegsende“ – die literarische Verarbeitung der Erschießungen nach der Kapitulation. Die DDR nahm die berechtigte Revolte der Matrosen für ihr Geschichtsbewußtsein in Beschlag und benannte drei Landungsschiffe der Volksmarine nach den drei Erschossenen Peters, Prenzler und Willkowski.

Auf dem Friedhof in Sonderbørg gibt es keinen Hinweis zu den Todesumständen der jungen Soldaten. Als ob die Spuren noch einmal verwischt werden sollten, hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. die Toten der M612 nicht nebeneinandergelegt, wie sie es sicherlich gewünscht hätten. Ihre Namen finden sich über das Gräberfeld verstreut. Die in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 1945 Erschossenen:

* Bootsmannsmaat Reinhold Kolenda, geboren am 20.11.1924

* Matrose Wilhelm Bretzke, geboren am 20.10.1924

* Matrosenobergefreiter Rudolf Peters, geboren am 6.2.1924

* Maschinenmaat Bruno Rust, geboren am 1.3.1923

* Matrosenobergefreiter Gustav Kölle, geboren am 14.7.1923

* Obermaschinenmaat Heinrich Glasmacher, geboren am 21.2.1924

* Matrosenobergefreiter Gustav Ritz, geboren am 5.8.1922

Die Gräber von folgenden Soldaten wurden nicht mehr gefunden:

* Feuerwerkshauptgefreiter Helmut Nuckelt, geb. am 19.4.1921

* Matrosenobergefreiter Gerhard Prenzler, geboren am 1.4.1924

* Matrosenobergefreiter Anton Roth, geboren am 22.10.1924

* Matrosenobergefreiter Heinz Willkowski, geb. am 25.10.1923

Späte Gerechtigkeit ist den Ermordeten inzwischen durch das Bundessozialgericht in Kassel zuteil geworden. 1991 stellte das Gericht ausdrücklich fest, daß alle Todesurteile deutscher Kriegsgerichte wegen Fahnenflucht offensichtliches Unrecht gewesen sind. Das Gericht begründete dies damit, daß die Wehrmacht einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geführt hat und deswegen die Desertion kein Unrecht bedeuten könnte. Angehörige damals Ermordeter haben deshalb Ansprüche auf Kriegsopferentschädigung. Diese Rechtsauffassung ist umstritten. In einschlägigen Kreisen hält man die Urteile von damals immer noch für Rechtens. Im Fall der elf Erschossenen von Sonderbørg hält das „Marine Forum“ 1990 (4/90, S. 120) die damaligen Urteile nach der Kriegsstrafverfahrensordnung für völlig in Ordnung und räumte nur ein, daß uns „heute“ für die „unverhältnismäßigen“ Strafen jegliches Verständnis fehle. Nun will die SPD mit einem in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf sämtliche Todesurteile der Nazi-Kriegsgerichte aufheben lassen.

Den elf auf dem Minensuchschiff M612 Erschossenen, die sogar erst nach Kriegsende „desertiert“ sind, nützt dies nichts mehr.