: Don Quichotte in der Toskana
Im „Netz der kleinen Städte Mittelitaliens“, einem alternativen Stadtentwicklungsprojekt, setzen sich Städte wie Volterra und Siena für eine Neuorganisation der Wirtschaft und eine Wiederbelebung der „Kultur der Orte“ ein ■ Von Adriane Borger
Sie liegen nur 20 Kilometer voneinander entfernt und könnten verschiedener nicht sein: Volterra, die „finstere Stadt“, die in unzugänglichem Hügelland hoch oben auf einem bröckelnden Felsen thront, und San Gimignano, dessen turmhohe mittelalterliche Wolkenkratzer sich über sanft gewelltem Land, über lichten Olivenhainen erheben. Die beiden toskanischen Städte zeigen exemplarisch, was für ganz Mittelitalien gilt: jeder Ort hat hier sein ganz eigenes Gesicht, ist in einer anderen Epoche der bewegten Vergangenheit dieser Landschaft geprägt worden.
Zwar blieben die historischen Zentren der Städte unangetastet, doch drumherum hat sich auch in Italien nach dem Krieg das Einheitsstadtmodell durchgesetzt. Strenge städtebauliche Vorschriften gelten nur für den Stadtkern, außerhalb der Mauern kann jeder machen, was er will. In den letzten vierzig Jahren ist in den mittelitalienischen Städten zehnmal soviel Fläche bebaut worden wie in Jahrhunderten davor. Das ganze Land wurde zentralistisch durchorganisiert, regionale Wirtschaftsbetriebe verschwanden, lokales Kunsthandwerk degenerierte zur Touristenattraktion.
Vor knapp drei Jahren schloß sich eine Handvoll Akademiker zusammen, um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Initiator und „Kopf“ der Gruppe ist Pietro Toesca, ehemals Professor für Theoretische Philosophie in Rom und Parma. Der 66jährige Toesca war schon immer ein Querdenker: In den siebziger Jahren stieg er aus dem ordentlichen Uni-Betrieb aus und gründete eine Freie Universität in San Gimignano. Nebenbei betrieb er eine Verlagskooperative, stellte Textilien her, arbeitete mit psychisch Kranken.
Seit drei Jahren nun ist er die zentrale Figur des Projektes Rete delle piccole città dell'Italia centrale (Netz der kleinen Städte Mittelitaliens). Von zwölf Leuten gegründet, gehören dem Verein inzwischen 74 Städte und Gemeinden, dazu einige Firmen und Einzelpersonen aus der Toskana, Umbrien, den Marken und Nord-Latium an. Neben Volterra und San Gimignano finden sich zum Beispiel Orvieto, Montepulciano und Siena auf der Liste der Rete-Städte. Die Kommunen wollen den Flächenverbrauch stoppen, Sonnen- und Windenergie nutzen, Abfälle wiederverwerten, schädliche Emissionen senken. Auf lokaler Ebene sollen „geschlossene Kreise von Produktion, Verteilung und Verbrauch“ geschaffen werden.
Was für deutsche Verhältnisse schon fast banal klingt, ist in Italien noch etwas Besonderes. Zwar gibt es auch dort eine Grüne Partei und Umweltinitiativen, praktische Erfahrungen mit umweltfreundlichen Technologien und Wirtschaftsweisen hat aber kaum jemand. Deshalb sind die Rete- Städte auf die Zusammenarbeit mit Projekten in anderen europäischen Ländern angewiesen. Das Energie- und Umweltzentrum in Springe bei Hannover bietet seit letztem Sommer spezielle Seminare für ItalienerInnen an. In ein- bis zweiwöchigen Crashkursen werden Rete-MitarbeiterInnen und andere Interessierte mit Solar- und Windenergie, mit Blockheizkraftwerken, Niedrigenergiehäusern und Pflanzenkläranlagen vertraut gemacht. Das Rete-Programm bleibt aber bei der Neuorganisation der Wirtschaft nicht stehen. Die Städte wollen die fast vergessene „Kultur der Orte“ wiederbeleben.
Dazu gehören „lokale Künste, lokale Bautechniken und Berufe“, dazu gehört die „Beziehung zwischen Bauwerken und der morphologischen Struktur der Landschaft“, aber auch die persönliche Beziehung der Menschen zu ihrer Region. Die Einrichtung von Entwicklungsbüros, regionalen Werkstätten und Universitäten soll die BürgerInnen anregen, sich an der Neugestaltung ihrer Stadt zu beteiligen.
Die theoretische Vorarbeit zum Rete-Programm findet seit der Gründung des Vereins vor allem in der Zeitschrift éupolis statt. Darin diskutieren die Intellektuellen aus dem Kreis um Pietro Toesca Ziele und Möglichkeiten alternativer Stadtentwicklung. Einige von ihnen sind grüne Realos, andere, insbesondere Toesca selbst, sehen sich mit dem Rete-Projekt auf dem Weg in eine andere Gesellschaft. Intakte Umwelt, menschenfreundliche Lebensräume sind für sie kein Selbstzweck. Mit einer Selbstverständlichkeit, die der deutschen Linken schon lange abhanden gekommen ist, erörtern sie die Abschaffung des Kapitalismus. Da geht es um Themen wie „Das Tabu der Macht und die gehorsame Gesellschaft“, um die Überwindung der Logik des Profits, um den „empirischen Menschen“, der „absolut menschlich (ist) in seinen Gefühlen, in Liebesbeziehungen, in der Arbeit und in der Freundschaft“.
Im krisengeschüttelten, politisch auseinanderdriftenden Italien sieht Toesca die Stunde für seine Utopien gekommen: „Wir müssen zuallerst den Mut haben, uns gegen die Aussichten auf innere Reformen des Schemas zu stellen, das in der Krise steckt und gleichzeitig als Gewinner aus ihr hervorgeht. Die großen Themen der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Geschwisterlichkeit, des Zusammenlebens, des Glücks, der menschlichen Tugenden müssen der Ausbeutung durch die ökonomische Weltherrschaft entrissen und der Ausgestaltung durch das soziale Bewußtsein konkreter Gemeinschaften wiedergegeben werden.“ Allerdings ist der Professor mit seinem theoretischen Horizont der Praxis des Rete-Projekts bislang weit voraus. Die Kommunen waren zwar schnell zum Beitritt entschlossen, doch schon beim Bezahlen der Mitgliedsbeiträge läßt das Engagement rapide nach. Und die wenigsten sind so weit, von sich aus Veränderungen in Angriff zu nehmen. „Viele Kommunen sind unter falschen Voraussetzungen beigetreten“, meint Claudio Pozzi, einer der engagierten Anhänger von Toescas Ideen. „Die haben gedacht, sie bekommen da erzählt, was sie machen müssen. Sie verstehen nicht, daß sie selbst das Projekt sind.“ Bei denen, die wirklich etwas auf die Beine stellen, hapert es oft an der Kommunikation: „Wenn da was passiert, wissen wir wahrscheinlich nichts davon.“ Nur zufällig hat Pozzi von einem Abfallwirtschaftsprojekt erfahren, bei dem die Gemeinde nicht nur getrennte Abfallsammlung und Recycling eingeführt hat, sondern damit auch noch Geld spart. Unterdessen malt Pietro Toesca sich die Menschen aus als „soziale Wesen, die bewußt und aktiv genug sind, echte Träger von Rechten und kreativen Fähigkeiten zu sein“. Doch aus vielen Gesprächen weiß Pozzi: „Die Leute auf dem Land sehen zwar sehr wohl, daß die heutige Produktionsweise schlecht ist für Mensch und Natur. Aber sie sind es nicht gewohnt, sich zu organisieren, und sie glauben nicht, daß sie selbst was verändern können.“
Das Rete-Projekt war eine Kopfgeburt. Bisher sei es ein „Laboratorium für Akademiker“ geblieben, meint Pozzi. Mit dem ersten großen Projekt hoffen die Initiatoren, die Rete-Idee unter das Volk zu bringen. Im November letzten Jahres begann für 25 Leute, aus 120 BewerberInnen ausgewählt, eine gut einjährige Ausbildung zu agenti del territorio. Ein Beruf, den sich der wissenschaftliche Beirat des Rete-Projektes ausgedacht hat. Die agenti sollen für jeweils drei oder vier Gemeinden alle Aktivitäten koordinieren, die mit der Stadtentwicklung in Zusammenhang stehen. Als Statthalter der Rete-Idee in den Kommunen, so das Konzept, werden die agenti nicht nur Kontakte zu den lokalen Wirtschaftsbetrieben und Behörden aufbauen, sondern Ansprechpartner für alle BürgerInnen sein. Die Kosten des Ausbildungskurses, 500 Millionen Lire (etwa 825.000 Mark), trägt zur Hälfte das italienische Arbeitsministerium, die andere Hälfte kommt aus dem „Euroform“-Programm der EU.
Daß die agenti-Ausbildung trotz vieler Schwierigkeiten tatsächlich zustande gekommen ist, macht Pietro Toesca Mut, und es bestätigt ihn in seinem unerschütterlichen Optimismus. Auf den Piazzen der Rete-Städte gastierte er in den letzten beiden Sommern mit einer Theatertruppe. Kein Zufall, daß sie den „Don Quichotte“ spielten. „Der Ritter von der traurigen Gestalt will zeigen, daß die Welt der Ideen den Lauf der sogenannten ,objektiven Welt‘ verändern kann“, schreibt Toesca im Programm.
Kontakt über: Energie- und Umweltzentrum, 31832 Springe-Eldagsen
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