Europameister Albanien

Albanien hat europaweit die höchste Wachstumsrate. Die Emigranten und immer mehr Auslandskapital kurbeln die Wirtschaft an.  ■ Aus Tirana Thomas Schmid

Die Bilder haben Geschichte gemacht: Ausgemergelte Gestalten, die verzweifelt die Schiffstaue hochklettern, um noch im letzten Moment auf Deck zu gelangen. Dann die Fotos von der andern Seite der Adria: halb verdurstete junge Männer, die in Bari nicht an Land gehen dürfen.

Den Italienern sind die Bilder in die Knochen gefahren. Als die Wirtschaft Albaniens 1991 kollabierte, Hungerrevolten und allgemeine Gesetzlosigkeit ausbrach, starteten sie die „Operation Pelikan“. Zwei Jahre lang schickten sie Nahrungsmittel auch in die entlegensten Winkel. Humanitäre Beweggründe mögen eine Rolle gespielt haben. Vor allem aber wollte sich Italien die Flüchtlinge vom Halse halten. Deshalb schickte es auch seine Marine in den Adriahafen von Durres.

Trotzdem: Die 664.000 Tonnen Nahrungs- und Hilfsmittel und die über 200.000 medizinischen Untersuchungen und Operationen haben wohl Tausenden das Leben gerettet. Am 3. Dezember des letzten Jahres wurde offiziell das Ende der „Operation Pelikan“ verkündet. Das Land, das buchstäblich an der Nabelschnur der einstigen Besatzungsmacht hing, mußte sich wieder auf eigene Füße stellen.

Noch sind die Folgen des Kollapses in Tirana überall zu spüren: Oft fließt nur wenige Stunden am Tag Wasser aus den Hähnen. Am Stadtrand liegen Gerippe ausgeschlachteter Autobusse. Aber auch die Anfänge einer wirtschaftlichen Entwicklung sind unübersehbar. Überall kleine Kioske, Straßenmärkte, in Tirana wird gehandelt – wenn auch vor allem mit ausländischen Waren: amerikanische Zigaretten, italienisches Bier, makedonische Fruchtsäfte, griechische Schokolade. 500 Imbißbuden, Bistros und Restaurants gibt es inzwischen in der Hauptstadt. Ein Verkehr, der Ampeln rechtfertigt, verunsichert Radfahrer und Fußgänger. Über 150.000 Autos rollen auf den Straßen des Staates, der vor drei Jahren Privatfahrzeuge gar nicht zuließ.

Das Geld kommt vor allem aus Griechenland. 250.000 Albaner sind in den letzten zwei Jahren legal ins Nachbarland ausgewandert, weitere 100.000, so die vorsichtigen Schätzungen, sind illegal über die Grenze gegangen, 90.000 haben sich nach Italien, weitere 10.000 in andere westeuropäische Länder abgesetzt. 800 Millionen US-Dollar bringen die Emigranten jährlich in ihre Heimat. Zum Vergleich: Das gesamte Exportvolumen des Jahres 1993 betrug 150 Millionen Dollar. Bislang sind die Wege kompliziert und verschlungen, auf denen das Geld der Ausgewanderten zurückkommt. Doch noch in diesem Jahr soll eine griechisch-albanische Bank, die Apollonia- Bank, gegründet werden. 60 Prozent des Aktienkapitals werden griechische Geschäftsleute besitzen, zehn Prozent die „Bank of Greece“, 30 Prozent albanische Sparkassen. Das Management wird Griechenland stellen. Klienten werden vor allem die albanischen Emigranten, griechische Investoren und Händler aus beiden Ländern sein. Die erste Privatbank gibt es in Albanien übrigens schon: die „Italienisch-Albanische Bank“. Auch Bulgarien, Rumänien und Malaysia wollen ins Finanzgeschäft einsteigen. Und Optimisten hoffen, daß noch in diesem Jahr die ersten Albaner in ihrem Land eine Bank eröffnen.

Das Auslandskapital hat einen neuen Markt entdeckt: die Österreicher bauen in Tirana ein Fünfsternehotel, die Italiener in der nordalbanischen Stadt Shkodra den ersten Supermarkt, der maltesische Multimilliardär Angelo Xuereb will im Süden ein Tourismuszentrum aufbauen, eine slowenische Firma will mit 1,4 Millionen Dollar eine Pepsi-Fabrik auf die Beine stellen. Und auch deutsches Kapital ist dabei: Siemens hat einen Vertrag zum Ausbau des Flughafens von Tirana abgeschlossen.

Albanien ist sogar Europa-Meister. „Um elf Prozent ist das Bruttosozialprodukt 1993 im Vergleich zum Vorjahr angewachsen“, sagt Teodor Misha, Chefredakteur der Albanian Economic Tribune, in seinem Büro, das sich in einem heruntergekommenen Gebäude im Zentrum Tiranas befindet, „verhältnismäßig mehr als in jedem anderen Land der Alten Welt.“ Wenn man jedoch die Produktionsziffern von 1993 auf das Jahr 1990 bezieht, so ist ein Rückgang um über 30 Prozent zu verbuchen. Am schlimmsten steht es um die Industrie. Allein im vergangenen Jahr ist ihre Produktion um weitere zehn Prozent geschrumpft, 1992 war sie um 60 Prozent und 1991 um 37 Prozent zurückgegangen. In allen anderen Bereichen aber sind die Wachstumsraten positiv. Spitzenreiter ist das Baugewerbe mit einem Zuwachs von 31,5 Prozent. Die Landwirtschaft wuchs um 14,4 Prozent. Fast 2.500 Traktoren wurden importiert, vor allem aus China. Zwölf Joint-ventures sind im landwirtschaftlichen Sektor tätig. Trotzdem wird noch auf alte Art und Weise gepflügt, bloß daß statt zwei Ochsen zwei magere Esel ins Joch eingespannt sind. Aber überall wird angebaut. Die Weizenproduktion ist 1993 um 84 Prozent gestiegen, bei Bohnen, Kartoffeln, Gemüse und Früchten sind die Zuwachsraten zweistellig.

Über 94 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Bodens wurden privatisiert. Über 450 000 Kleinbauern erhielten ein Stück Land zugeteilt, bislang aber ist es ihnen verboten, es zu veräußern. Noch ist ungeklärt, wie die Ansprüche von Landeigentümern aus der vorkommunistischen Epoche zu behandeln sind. Neben dem Krieg auf dem Balkan, so meint Selami Xhepa, Chef des „Albanischen Zentrums zur Förderung ausländischer Investitionen“, seien die ungeklärten Landrechte das größte Investitionshemmnis.

Nach der Verfassung von 1976 war die Kredit- und Kapitalaufnahme im Ausland noch verboten, der Außenhandel beschränkte sich auf Kompensationsgeschäfte. Das Land setzte – nach dem Bruch mit China erst recht – auf wirtschaftliche Autarkie. Heute kann davon nicht mehr die Rede sein. Albanien exportierte 1993 Güter im Wert von 150 Millionen Dollar, mußte aber 350 Millionen Dollar für die Importe aufbringen. Größter Handelspartner waren Italien und Griechenland, gefolgt von Makedonien, was die Exporte betrifft, und von Deutschland und Frankreich bezüglich der Importe. In der weltweiten Arbeitsteilung wird dem Land, das über große Bodenschätze an Chrom, Kupfer, Quecksilber und vor allem Erdöl verfügt, die Rolle eines Rohstofflieferanten zugewiesen. Im übrigen wird es vor allem landwirtschaftliche Produkte herstellen und die Küsten für den Tourismus erschließen.

Was das Erdöl betrifft, haben fünf Multis bereits die Rechte zur Exploration erworben und die Küste aufgeteilt: die österreichische ÖMV, die italienische Agip, Oxy, Chevron und Hamilton. Sie übernehmen sämtliche Kosten der Erdölsuche und erhalten die Hälfte der Einnahmen aus dem Verkauf.

Auch sonst sucht Auslandskapital nach profitablen Investitionsmöglichkeiten. Im prachtvollen Hotel Dajti von Tirana haben die humanitären Organisationen den Geschäftsleuten Platz gemacht. In der Gesellschaft, in der früher – nach gesetzlicher Regelung – der Spitzenpolitiker gerade das Doppelte des am schlechtesten bezahlten Lohnarbeiters verdienen durfte, macht sich eine schmale Schicht von Parvenus breit, die Mercedes fährt, im feinen Restaurant speist und – zu Recht oder zu Unrecht – mafiöser Beziehungen verdächtigt wird. Für das Volk aber bleibt weiterhin Schmalhans Küchenmeister. Der monatliche Durschnittslohn beträgt 3.000 Lek, umgerechnet 50 Mark – bei Preisen für Grundnahrungsmittel, die etwa ein Viertel bis ein Drittel des deutschen Niveaus betragen. Etwa 400.000 arbeitsfähige Personen sind erwerbslos, von denen etwa ein Drittel Sozialhilfe in Höhe von sieben Mark pro Monat und pro Kind erhält. Allein in Tirana sind schätzungweise 60.000 obdachlos.

Schon in vorkommunistischer Zeit war Albanien das Armenhaus Europas. Der Versuch der stalinistischen Diktatur, das Land über wirtschaftliche Autarkie aus der Armut herauszuführen, hat sich als Irrweg erwiesen. Nach dem Zusammenbruch liegen die Folgen offen zutage. Die Industrie ist ruiniert. Nun muß sich das Land dem Weltmarkt aussetzen – die Preise sind nach oben geschossen.

Doch hat die erbarmungslose Rezeptur der internationalen Finanzinstitutionen auch eine positive Seite: Die Landeswährung ist seit fast zwei Jahren stabil. So stabil, daß sich sogar die Geldfälscherei lohnt. Im Süden des Landes sind fünf Personen verhaftet worden, die 24 Kilo Blüten mit sich trugen: 60 Millionen Lek. Dafür müßte heute ein Durchschnittsalbaner über tausend Jahre arbeiten.