: Goldgrube Hamburger S-Bahn
■ Vertrauliches Gutachten: S-Bahn ist „minus 3 Milliarden Mark wert“ / Verkehrssenator verhängt „Denk- und Redeverbot“ Von Florian Marten
Erst wurde sie angeboten wie sauer Bier, dann stieß sie auf heftiges Senatsinteresse, schließlich wurde verhandelt, gegutachtet und gestritten – jetzt ist der Deal wohl endgültig geplatzt: Wollte die Bundesbahn die S-Bahn, Hamburgs wichtigstes Nahverkehrsmittel – es liefert 40 Prozent der gesamten HVV-Leistung – vor Jahresfrist noch loswerden, so hat die zum 1. Januar 1994 privatisierte DB AG inzwischen alle Verkaufssignale auf Knallrot geschaltet.
Der Grund: Am 1.1.1996 wird das Finanzierungssystem des öffentlichen Personen-Nahverkehrs (ÖPNV) in Deutschland grundlegend revolutioniert. Bundesländer und Städte müssen die gewünschten Leistungen dann bei den Verkehrsunternehmen bestellen und dort, wo die Tarifeinnahmen nicht ausreichen, voll bezahlen. Für die Verkehrsunternehmen tut sich ein der Rüstungsindustrie vergleichbares Schlaraffenland auf: Der Staat bestellt und bezahlt.
Hellwach ist bereits Daimler-Benz. Der Weltkonzern wälzt derzeit Pläne, die Berliner S-Bahn zu übernehmen. Siemens erhielt kürzlich den Zuschlag für den Betrieb des Stadtbahn-Systems von Manchester. Den neuen Trend hat jetzt auch die DB AG erkannt. Urspüngliche Pläne, die Bahn auf Fern- und Güterverkehr einzudampfen, wurden zu den Akten gelegt, sogar der Verkauf der maroden Bahnbusgesellschaften, voriges Jahr noch eifrig betrieben, wurde über Nacht zurückgepfiffen.
Bahnchef Heinz Dürr hat jetzt sogar die marode Hamburger S-Bahn neu in sein Herz geschlossen. Gab es 1993 zum Beispiel noch Riesenkrach zwischen Voscherau und Dürr, weil die Bahn sich weigerte, die Verkaufsverhandlungen zwischen Senat und DB durch den überfälligen Kauf neuer S-Bahn-Züge zu erleichtern, so hat die DB AG jetzt plötzlich für stolze 354 Millionen Mark 45 neue S-Bahn-Züge bestellt.
Hamburger S-Bahn-Fans dürfen dennoch nicht von einer rosigen Zukunft träumen. Im Gegenteil: Als die Gutachter der international renommierten Gutachterfirma Booz, Allen&Hamilton im letzten Jahr im Auftrag von Senat und Bundesverkehrsministerium Wert und Zustand des Hamburger S-Bahn-Systems untersuchten, mochten sie ihren Augen nicht trauen. Entsetzen schimmert durch die nüchternen Formulierungen des bis heute streng vertraulichen Gutachtens, welches der taz vorliegt: Das Durchschnittsalter des Wagenparks liegt bei über 30 Jahren und damit „über der im Durchschnitt angesetzten technischen Lebensdauer“. Kein Wunder, daß die Instandhaltungskosten in den vergangenen Jahren mit zweistelligen Zuwachsraten explodierten.
Ähnlich schlimm ist es um die Bahnelektrik bestellt: „30 Prozent der 25-Kilovolt-Kabel und 9 Prozent der Unterwerke“, so notieren die Gutachter, „haben die technische Lebensdauer von 40 Jahren bereits überschritten“. Auch die Signalanlagen sind technisch rückständig und überaltert.
Fazit der Gutachter: „Der Gegenwartswert der Hamburger Gleichstrom-S-Bahn beträgt minus 2,958 Milliarden DM.“ Die Gutachter empfehlen, Zuschüsse des Bundes vorausgesetzt, die Übernahme der S-Bahn durch einen privaten Träger – zum Beispiel die Hamburger Hochbahn AG. Die „Realisierungswahrscheinlichkeit“von Rationalisierung, Modernisierung und Leistungsverbesserungen sei erheblich „höher“ als wenn die DB AG den Zuschlag erhielte. Grund: „Die zukünftige DB AG würde Reformeffekte nicht an die FHH weitergeben“, sprich Kunden und Stadt zahlen, aber nicht profitieren lassen.
Verkehrssenator Eugen Wagner hat die Angelegenheit längst zur Chefsache erklärt und ein absolutes „Denk- und Redeverbot“, so ein Insider, über die Zukunft des Hamburger Schienenverkehrs verhängt. „Hamburg ist dabei“, so schimpfte kürzlich ein hochrangiger Verkehrsbeamter im kleinen Kreis, „die Chancen der Bahnreform für eine grundlegende Reform und Verbesserung seines öffentlichen Verkehrssystems zu verspielen“.
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