Streben nach dem Tor

Erst im Penaltyschießen gewinnen die Kanadier die Eishockey-Weltmeisterschaft gegen ein äußerst starkes finnisches Team  ■ Aus Mailand Matti Lieske

Wohl niemand hätte geglaubt, daß sich hartgesottene NHL-Profis über so etwas Schlechtbezahltes wie eine Weltmeisterschaft derartig freuen können. Doch kaum hatte Keeper Bill Ranford den entscheidenden Penalty im Finale gegen Finnland pariert, gebärdeten sich Kanadas Hockey-Millionäre, „als hätten sie ein Schloß gewonnen“, wie der selige Herbert Zimmermann, Radio-Kommentator des Fußball-WM-Endspiels 1954, in solchen Fällen zu sagen pflegte. Ranford hüpfte trotz seiner schweren Torwartrüstung in die Höhe, als habe er sich soeben in einen kanadischen Sotomayor verwandelt, und überall auf dem Eis bildeten sich kreischende Konglomerate, aus denen hier und dort ein paar Handschuhe, Helme oder Kufen hervorragten. Der im ersten Drittel durch einen üblen Check außer Gefecht gesetzte Torjäger Brendan Shanahan, der in Turnschuhen über das Eis schlitterte, hatte Mühe, seinen angeschlagenen Corpus im Jubelgetümmel vor weiterem Schaden zu bewahren, dem rauhbeinigen Verteidiger Steve Duchesne liefen gar ein paar Tränchen über das kantige Gesicht, die kanadische Hymne ging in einer Kaskade von Jauchzern unter, und das auch nach drei Stunden Eishockey noch wohlfrisiert wirkende Milchgesicht Luc Robitaille reckte immer wieder sein noch wohlfrisierteres Söhnchen samt kanadischer Flagge in die Höhe.

Robitaille, daheim bei den Los Angeles Kings von Wayne-Gretzky-Vorlagen verwöhnt, war gerade noch rechtzeitig in Schwung gekommen. Fast zwei Wochen lang kurvte der Kapitän des „Team Canada“ mehr oder weniger nebenher, erzielte aber dann im mit 6:0 gwonnenen Halbfinale gegen die Schweden drei Tore und war auch im Endspiel der entscheidende Mann. Zuerst gab er vier Minuten vor Ende der regulären Spielzeit die Vorlage zum erlösenden 1:1 durch Rod Brind'Amour, und nachdem auch die Verlängerung ohne weiteres Tor vonstatten gegangen war, verwandelte er souverän zwei Penaltys, darunter jenen entscheidenden, der Ranfords krönender Parade voranging.

Besonders für die Seele des 19jährigen Paul Kariya war Robitailles Kaltblütigkeit der reinste Balsam. Bei den Olympischen Spielen in Lillehammer hatte Kariya im Endspiel gegen Schweden den entscheidenden Penalty verschossen, war dann als einziger aus dem Olympia-Team übriggeblieben und bei der WM mit zwölf Scorerpunkten zum erfolgreichsten Stürmer der Kanadier avanciert. Doch ausgerechnet im Finale schien der vielversprechende Alibi-Amateur in der Mannschaft der Top-Profis, der allerdings auch schon einen NHL-Vertrag mit Walt Disneys Mighty Ducks aus Anaheim in der Tasche hat, wieder in die Rolle des Unglücksraben zu schlüpfen. In der siebenten Minute der Verlängerung hatte er die erste glasklare Torchance dieser Begegnung, lief allein auf Finnlands Keeper Jarmo Myllys zu – und schoß diesen an. Und Coach George Kingston kannte keine Gnade. Eisern verdonnerte er Kariya dazu, den vierten kanadischen Penalty zu schießen, der beim Stande von 2:1 wiederum die finnische Niederlage besiegelt hätte. Erneut scheiterte Kariya an Myllys. Danach traf Mäkälä für die Finnen, Kanadas Pat Verbeek verfehlte das Tor, aber dank Luc Robitaille wurde doch noch alles gut und die etwas bessere von zwei hervorragenden Mannschaften mit ein bißchen Glück Weltmeister.

Als Johan Cruyff, niederländischer Fußball-Philosoph des ausgehenden 20. Jahrhunderts, kürzlich gefragt wurde, welche Partie ihm in diesem Jahr am besten gefallen habe, nannte er das Match AC Parma – Ajax Amsterdam, „paradoxerweise ein 0:0, aber geprägt von dem fortgesetzten und beidseitigen Streben, ein Tor zu erzielen“. Würde sich Cruyff für Eishockey interessieren, was, zugegeben, schwer vorstellbar ist, hätte er über das Endspiel von Mailand wohl dasselbe gesagt. Die beiden unbestritten besten Teams dieser WM boten eine Demonstration schnellen, technisch perfekten Eishockeys, waren dabei aber in der Defensive so gut organisiert und aufmerksam, daß kaum klare Torchancen heraussprangen und verfügten zudem über sichere Torhüter. So war es kein Wunder, daß es bis zum Führungstreffer der Finnen durch Esa Keskinen in der 47. Minute 0:0 stand, zumal die Kanadier auch das exzellente Powerplay der Nordeuropäer wirksam zu bekämpfen wußten – anders als die USA, die im 0:8 verlorenen Halbfinale gegen die Finnen oft wie Eisbären im Winterschlaf gewirkt hatten.

Rein hypothetisch die Frage, was geschehen wäre, wenn Finnland seinen Torjäger Teemu Selanne aus Winnipeg und den erfahrenen Esa Tikkanen von den New York Rangers dabeigehabt hätte, schließlich hatten auch die Kanadier in dieser Hinsicht jede Menge Hypothesen zu bieten. Und auch die Frage, was ein durchaus unterhaltsames Turnier, bei dem immer mehr der weltbesten Spieler fehlen, weil immer mehr Europäer in die NHL abwandern, eigentlich mit einer Weltmeisterschaft zu tun hat, ist müßig. Zumindest solange die Sieger derart ausgelassen jubeln wie die Kanadier, die sich zum erstenmal seit 1961 Weltmeister nennen dürfen.