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Streik – eine völlig neue Erfahrung

In Indonesien kommt es immer häufiger zu Arbeiterprotesten und Streiks — trotz scharfer Kontrolle durch die Behörden und das allgegenwärtige Militär / Noch ist die Bewegung schwach  ■ Aus Medan Hugh Williamson

„Samstags bekommen wir Geld für zwei Wochen, am Montag ist es weg“, sagt Sudin, eine schlanke Frau Anfang Zwanzig. Wie ihre 3.500 Kollegen in einer Furnierholzfabrik in der Nähe von Medan verdient sie nur 78 Mark monatlich. Dafür muß sie Schicht arbeiten, sechs Tage die Woche, häufig acht Stunden in der Holztrocknungsabteilung, wo es nach ihren Worten „sehr heiß“ wird. Klimaanlage? Dumme Frage: Natürlich nicht, antwortet Sudin.

Sudin und ihre KollegInnen, zu drei Vierteln Frauen, haben sich Mitte April in Medan auf der indonesischen Insel Sumatra – einer Stadt mit 1,8 Millionen Einwohnern – einer Welle von Streiks und Arbeiterdemonstrationen angeschlossen, weil sie gehört hatten, der indonesische Arbeitsminister wolle Medan einen Besuch abstatten. „Arbeiter aus anderen Fabriken marschierten in die Stadt, also beschlossen wir, uns ihnen anzuschließen. Auch wir wollten bessere Arbeitsbedingungen.“

Die Demonstrationen hatten zweitägige Unruhen zur Folge, die sich in erster Linie gegen die ansässige chinesische Minderheit richteten; ein Geschäftsmann kam ums Leben, 150 Geschäfte wurden verwüstet und über 120 Arbeiter festgenommen.

Zehn Holzarbeiter, die in ihrer Fabrik als informelle Führer auftreten, treffen sich im lokalen Rechtshilfebüro, um über ihre nächsten Schritte zu beraten. Sie wirken gereizt und erregt – einen Streik zu organisieren ist für sie eine völlig neue Erfahrung. Der Redegewandteste der Gruppe, Marsit, ein Mann Mitte Zwanzig, besteht darauf, daß die Arbeiter weder militant noch gewalttätig seien. „Wir demonstrieren nicht. Das ist ein zu starkes Wort; eher zeigen wir, was wir wollen.“

Die Firma sollte wenigstens den Mindestlohn zahlen, der zur Zeit auf 2,40 Mark pro Tag festgelegt ist, sagt er, zusätzlich Zuschüsse für Lebensmittel, Transport und Mieten. Die Mindestlöhne wurden im Januar in Jakarta und anderen Regionen auf 2,90 Mark erhöht, nicht aber in Medan; das hat hier viel böses Blut gemacht.

Diese sehr direkten Forderungen bilden das einfache Motiv für eine Welle spontaner Streiks, die Indonesien in den letzten Jahren überzog. In Jakarta und Ostjava, den wichtigsten Industriegebieten des Landes, gewannen sie an Kraft. Offizielle Zahlen gaben für 1992 zum Beispiel 177 Streiks an, 37 Prozent mehr als 1991. Die Streiks breiteten sich dieses Jahr auch auf Medan und seine Industriebezirke aus; es gab allein im März 31 Arbeitsniederlegungen, an denen 40.000 Arbeiter beteiligt waren, das waren mehr als je zuvor. Durch die Arbeitskämpfe Mitte April wurden zeitweise siebzig Betriebe stillgelegt.

Aber diese Motive werden selten direkt wahrgenommen in dem Land mit der viertgrößten Bevölkerung der Erde, 181 Millionen Einwohnern. Denn die staatlichen Behörden – unter der Kontrolle des seit 1967 amtierenden Präsidenten Suharto – diktieren die meisten Aspekte des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens mit Hilfe eines Netzes ziviler und militärischer Institutionen.

Für das Suharto-Regime wirken die Streiks besonders störend, weil sie ausländischen Investoren politische Instabilität und ökonomische Störungen zu signalisieren scheinen. Indonesien verließ sich lange Zeit für seine Exporteinkünfte auf die riesigen Öl- und Gasvorkommen. Doch diese schwinden allmählich, und zum Ausgleich sollen die Exporte von Industrieprodukten gesteigert werden. Und ebenso wie die asiatischen „Tiger“ – Südkorea, Taiwan, Hongkong und in neuerer Zeit Malaysia und Thailand – lockt Indonesien ausländische Investoren vor allem mit billigen und fügsamen Arbeitskräften.

Marsit, der Führer der Holzarbeiter, sagt, keiner seiner Kollegen habe an den antichinesischen Ausschreitungen am 14. und 15. April teilgenommen. „Wir mobilisieren keine antichinesischen Gefühle“, betont er, „nur um unser Recht zu bekommen.“ Aber die Unruhen erregten die Aufmerksamkeit der internationalen Medien und boten dem Militär Gelegenheit, die Streikenden als rassistische Unruhestifter zu brandmarken und gegen die beteiligte unabhängige Indonesian Prosperous Labor Union (SBSI) loszuschlagen.

SBSI-Führer wurden festgenommen; in gewohnter Verleumdungstaktik zog das Militär über die Gewerkschaft her und brachte sie indirekt mit der verbotenen indonesischen KP in Verbindung.

Die meisten Arbeiteraktivisten in Medan vermuten, daß Militäroffiziere oder für sie arbeitende Spitzel die Unruhen provozierten. Tatsächlich sollen zwei Offiziere aus mittleren Rängen zugegeben haben, sie hätten zu Ausschreitungen aufgerufen. Während der Unruhen fielen auch andere Anzeichen äußerer Einmischung bei der Erregung antichinesicher Gefühle ins Auge: ungezeichnete Flugblätter und professionell hergestellte Transparente.

Auf der anderen Seite der Stadt, in seinem unauffälligen dreistöckigen Bürogebäude, hat Maiyasyak Juhan, Direktor des LAAI, einer Gruppe für Familienplanung, die Gewalt beobachtet und war auch von ihr betroffen. „Der militärische Nachrichtendienst greift bei Streiks häufig ein, um die Arbeiter in ein schlechtes Licht zu setzen“, sagt er. Unbekannte bewarfen seine Büros kurz nach den Unruhen mit Steinen, „wahrscheinlich, weil LAAI den Arbeitern bei einigen Auseinandersetzungen geholfen hat“, sagt Maiyasyak.

Die chinesischstämmige Bevölkerung ist klein, beherrscht aber die lokale Wirtschaft, sagt ein ortsansässiger Diplomat, der aus Sicherheitsgründen nur außerhalb seines Büros sprechen will. Sie kontrolliert auch die Betriebe, die sich an den Ausfallstraßen Medans erstrecken und leichte Manufakturgüter für den Export herstellen, wie Schuhe, Kleider und Spielwaren. „Das führt zu Ressentiments und Paranoia, verursacht durch eine wachsende Kluft zwischen Chinesen und anderen Einwohnern und durch Vorwürfe korrupter Beziehungen zwischen dem Militär und chinesischen Geschäftsleuten“, sagt der Diplomat.

„Vor diesen großen Demonstrationen mit zwanzig- oder dreißigtausend Teilnehmern hielt hier niemand so etwas für möglich“, sagt Jafar Siddiq Hamzah, ein Anwalt, der für die Rechtshilfegruppe (LBH) arbeitet, in deren Büro sich die Holzarbeiter treffen. Arbeiterdemonstrationen in Indonesien snd selten laut oder gewalttätig – das unterstreicht, wie ungewöhnlich die antichinesischen Ausschreitungen waren.

„Der Marsch wirkte wie ein grüner Strom – tausend grüngekleidete junge Frauen, die die Straße von ihrer Zigarettenfabrik heruntermarschiert kamen“, sagt Kathleen Kilkelly, eine Kirchenarbeiterin, die am 18. April eine Demonstration in Pematang Siantar miterlebte, 130 Kilometer von Medan. „Die jungen Männer benutzten Megaphone, während die Frauen manchmal anhielten, um zu singen und in die Hände zu klatschen. Passanten kletterten auf Autos und Marktstände, um besser zu sehen – Streiks sind hier nicht sehr häufig.“

Außerdem droht bei Streiks nach wie vor das Eingreifen des Militärs, obwohl die Regierung diese Praxis seit Januar verboten hat. „Am zweiten Tag des Streiks schickten sie zwei Lastwagen voll Soldaten nur für unsere Fabrik“, sagt Marsit. „Bei ihrer Ankunft schossen sie in die Luft.“ Die Holzarbeiter haben wie alle Arbeiter in ganz Indonesien keine richtige Gewerkschaft, lediglich eine Branchenorganisation der staatlich kontrollierten All Indonesian Workers Union (SPSI), deren Zweigstellen häufig mit pensionierten Militäroffizieren besetzt sind.

All diese Faktoren führten am 14. April zu der „Explosion der Volksmacht“, wie es einer der Kämpfer für Arbeiterrechte nennt. Aber sie erfolgte nicht völlig spontan. Bei einem anderen halbgeheimen Treffen erzählt Taslim, das Mitglied einer Gruppe für Arbeiterrechte in Medan: „Wir haben an der Basis Bildungskurse organisiert, damit die Arbeiter ihre juristischen und politischen Rechte kennenlernen.“ Zur Zeit hält er sich verborgen, um nicht verhaftet zu werden. Seine Gruppe hat allein im letzten Jahr in sechzig Firmen Kurse organisiert – häufig insgeheim in Arbeiterwohnheimen. Anders als seine und andere Gruppen hat die SBSI, die vor zwei Jahren gegründet wurde und insgesamt 250.000 Mitglieder haben will, einen höheren Organisationsgrad – daher die militärischen Übergriffe gegen ihre Führer und Aktivitäten.

Im Februar starteten die USA einen umstrittenen Versuch, die Handelsprivilegien Indonesiens gegenüber den USA mit der Frage der Arbeiterrechte zu verknüpfen. In Indonesien selbst brachten zwei Todesfälle unter den Arbeitern – in Ostjava im Mai letzten Jahres, dann vor sechs Wochen in Medan – die Proteste der ArbeiterInnen zum offenen Ausbruch. „Es gibt eine Krise in der staatlichen Politik der Gewerkschaftskontrolle“, sagt Teten Masudi vom Rechtshilfezentrum LBH. „Unterdrückung führt zu weiterer Unterdrückung, und Medan ist dafür nur das neueste Beispiel.“

In beiden Fällen war die schwere Hand des Militärs offensichtlich mit im Spiel. Marsinah, eine 25jährige Frau, die in einer Uhrenfabrik arbeitete, hatte sich an der Organisation eines Streiks beteiligt. Ihre Leiche, die Folterspuren aufwies, wurde in einer Hütte über 100 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt aufgefunden. Zunächst leugnete das lokale Militär jede Verbindung zwischen ihrem Tod und dem Streik, dann änderten sie ihre Geschichte. Neun Personen, darunter auch die Manager des Betriebs, wurden wegen Mordes verurteilt.

Inzwischen haben die Verurteilten unter großer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit Berufung eingelegt und behaupten, sie seien gefoltert worden, damit sie falsche Geständnisse ablegten. Eine detaillierte LBH-Studie bekräftigt dies und verweist auf ungeschickte Versuche des Militärs, seine eigene exzessive Brutalität zu verwischen.

Rusli war ein 22jähriger Gummifabrikarbeiter aus Medan. Seine Leiche, die ebenfalls schwere Verletzungen aufwies, wurde am 13. März dieses Jahres in einem Fluß gefunden, zwei Tage nach größeren Demonstrationen, bei denen Zuschüsse für einen wichtigen moslemischen Feiertag gefordert worden waren. Augenzeugen sahen, wie Militärpolizei Rusli und sieben Kollegen in der Nähe des Flusses verfolgte, aber die Umstände seines Todes blieben unbekannt. Das Militär behauptet, er sei ertrunken, während seine Frau Samiyem erzählt, er sei ein guter Schwimmer gewesen. Ruslis Tod erschütterte Medan mehrere Wochen lang, als die Arbeiter sich nach dem Feiertag aufs neue zu organisieren begannen. Eine gründliche Untersuchung seines Todes war eine der Hauptforderungen der Demonstranten, als sie am 14. April nach Medan marschierten.

„Die Unruhen gaben dem Militär den Vorwand, den es brauchte, um die SBSI und die Streikwelle zu unterdrücken, aber es ist zu spät“, sagt Teten Masduki bei LBH. Nach Medan ist die Frage der Arbeiterrechte zu einem wichtigen Test für den indonesischen Weg zur ökonomischen Entwicklung geworden, wie auch zur Rolle des Militärs in zivilen Angelegenheiten.

Die Arbeiterbewegung ist noch schwach, wie es die erfolgreiche Provokation der Rassenunruhen deutlich macht. Aber seit Anfang der neunziger Jahre ist die Bewegung von einem Untergrundnetz zu einer flexiblen, wenn auch noch immer unkoordinierten Kraft geworden, die für bessere Arbeitsbedingungen und Organisationsfreiheit kämpft. Darin folgt sie dem Trend, der sich zuvor bereits in anderen asiatischen Ländern zeigte, wie auf den Philippinen, in Südkorea, Taiwan, Hongkong und Thailand, wo sich in den letzten fünfzehn Jahren unabhängige Gewerkschaften in häufig schweren Kämpfen gegen Arbeitgeber, politische Parteien oder die Regierung herausbildeten, um Zugang zu Verhandlungen und ökonomischen Entscheidungen zu beanspruchen.

Nun scheint die Reihe an Indonesien. Inzwischen sind Medans Furnierholzarbeiter zuversichtlich, daß sich in ihrer Firma etwas tut: „Sechs weitere Firmen sind bereit, die Forderungen der Arbeiter zu erfüllen, deshalb hoffen wir, daß unsere sich anschließt.“

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