Präsidentenwahlen in der Ukraine – na und?

■ Parlament in Kiew konstituiert sich

Moskau (taz) – An Gleichmut kann keiner den Ukrainern so schnell das Wasser reichen. Was die Duldung fachlicher Inkompetenz ihrer politischen Führung anbelangt, trieben sie sogar den Grenzwert slawischen Stoizismus in unerreichbare Höhe. Das Land manövriert seit Monaten am Rande des wirtschaftlichen Kollapses. Doch Regierung und Präsident machen keine Anstalten, daran etwas zu ändern. Im neuen Parlament, das heute zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentritt, stellen unabhängige Deputierte mit fast der Hälfte aller Sitze den größten Block. Sie sind aber keine einheitliche politische Kraft. Welcher Richtung sie sich verpflichtet fühlen, wird sich erst noch zeigen. Die Gewinner der Wahlen Ende März waren eindeutig Kommunisten und Sozialisten, die allein über 118 Mandate verfügen. Überwältigenden Zuspruch erhielten sie im russischsprachigen und industrialisierten Osten der Ukraine. Die nationaldemokratische Partei „Ruch“ schnitt mit 35 Mandaten nicht sonderlich gut ab. 17 Abgeordnete sind dem Zentrum und seiner Galionsfigur, Präsidentschaftskandidat Leonid Kutschma, zuzurechnen.

Vom neuen Parlament einen Richtungswechsel zu erwarten scheint schon jetzt ausgeschlossen. Die Annahme einer neuen Verfassung, die das Verhältnis zwischen den Gewalten klar umreißt, ist wegen der starken kommunistischen Fraktion unwahrscheinlich. Die genauere Aufteilung der „Unabhängigen“ entscheidet schließlich darüber, was das Parlament tatsächlich bewegen kann – oder ob der ukrainische Ost-West-Konflikt zwischen Nationalisten im Westen und Rußlandfreunden im Osten zum beherrschenden Thema wird. Gestern konstituierte sich zudem das Parlament der Krim, von dort waren scharfe Sprüche gegen Kiew zu hören.

Da Präsident Krawtschuk geahnt hatte, daß im neuen Parlament die Kommunisten eine alles blockierende Mandatszahl erreichen würden, hatte er versucht, die Parlamentswahlen zu verschieben. Bis vor kurzem wollte er auch die für Juni angesetzten Präsidentschaftswahlen auf den Herbst legen. Denn seine Chancen, wiedergewählt zu werden, stehen schlecht. Einige Monate Aufschub könnte er nutzen, um doch noch Reformschritte einzuleiten. Beim IWF liegen immerhin anderthalb Milliarden Dollar abrufbereit. Sollte Krawtschuk dem Parlament einen Aufschub abringen wollen, werden die Kommunisten wohl tatsächlich nicht mitziehen. Sie rechnen sich nach den letzten Wahlen gute Chancen aus. Insgesamt gehen neun Präsidentenanwärter ins Rennen. Im ersten Wahlgang wird es keiner von ihnen schaffen. Krawtschuks bekanntester Herausforderer ist der ehemalige Parlamentssprecher Iwan Pluschtsch. Welches Ziel er außer dem Machtgewinn verfolgt, läßt sich nicht sagen. Die reformorientierten Kandidaten brauchen sich gar nicht erst große Hoffnungen zu machen. Obwohl sie kurze Regierungserfahrungen vorweisen können, kennt sie keiner. Mit dem ehemaligen Vizepremier Wladimir Lanowoj und Wirtschaftsminister Viktor Pensenik treten zwei Reformer an, die sich gegenseitig nicht nur nicht ausstehen können, sondern sich auch noch Stimmen streitig machen werden. Etwas aussichtsreicher kann der Kandidat der Sozialisten Alexander Moros ins Rennen gehen.

In Umfragen schneidet dagegen seit Monaten Leonid Kutschma sehr gut ab, der Kopf des „Ukrainischen Unternehmer- und Industriellenverbandes“. Er ist Pragmatiker und vertritt eine gemäßigte Reformvariante. Vor seinem Eintritt in die Politik leitete er die weltgrößte Missilefabrik in Dnejpropetrowsk. Im Osten unter den Russen ist er sehr populär, weil er für eine enge wirtschaftliche Verknüpfung mit Rußland eintritt. Wie es aussieht, wird sich trotz aller Wahlen in der Ukraine auf längere Sicht nichts ändern. Erst muß die alte Apparatschikgeneration verschwunden sein. Klaus-Helge Donath