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Eine bahnbrechende Idee

Alle drei Minuten schluckt das Haus Dennewitzstraße Nummer 2 die Linie 1 – und spuckt sie, in entgegengesetzter Richtung, wieder aus  ■ Von Thorsten Schmitz

Wenn Herr Sträter arbeitet, fährt er mit der U-Bahn durch sein Wohnzimmer. Genauer gesagt mit der Linie 1.

Das hört sich großartig an, aber Herr Sträter würde so nie über seinen Beruf reden. Das wäre ihm Interessantmacherei. Er würde, in aller Bescheidenheit, sagen: „Ich bin U-Bahn-Fahrer.“ Mehr Sensation wäre ihm nicht zu entlocken.

Nun gut. Beginnen wir weniger plakativ. Auch so ist die Geschichte, von der berichtet werden soll, skurril genug.

Berlin ist größer als New York City. Auf den 885 Quadratkilometern der Spreestadt hätten München, Kiel, Düsseldorf und Hannover spielend Platz. Eine große Stadt, die sich ausdehnt wie ein Pfannekuchen, ein Pfannekuchen aus dreieinhalb Millionen Menschen.

Konstruktive Höhenflüge

Bei soviel Platz, sollte man meinen, sollte es möglich sein, eine U- Bahn-Strecke zu bauen ohne größere Komplikationen. Zumal die meisten noch aus der Zeit der Jahrhundertwende stammen und damals weniger Menschen und Häuser das Berlin von heute geprägt haben. Aber: weit gefehlt!

Auch damals, die Spuren des Ersten Weltkrieges waren noch sichtbar und man schrieb das Jahr 1926, hatten manche Stadtplaner einen Knall (wie man heute attestieren würde) oder konstruktive Höhenflüge (wie man damals ehrfurchtsvoll murmelte).

Oder bahnbrechende Ideen; die Betonung liegt auf der ersten Silbe. Weil Techniker der Firma Siemens in jener Zeit errechnet hatten, daß Gebäudedurchbrüche rentabler seien, als mit der Abrißbirne eine vierstöckige schmucklose Mietskaserne plattzumachen, bohrte man 1926 ein Loch ins Haus Dennewitzstraße Nummer 2 in Tiergarten. Seitdem schluckt das braune Wohnhaus, das schräg gegenüber der Szenedisco „90 Grad“ liegt, alle drei Minuten die Linie 1 und spuckt sie, in entgegengesetzter Richtung, wieder aus.

„Und wennn Sie mal bitte links schauen möchten, auf dieses eigentlich unauffällige Haus, und einen Moment Geduld haben, dann werden Sie etwas erleben, was in Europa einmalig und nur in Berlin zu sehen ist, ansonsten in Amerika noch einmal, in Chicago, um genau zu sein.“ Der Touring-Bus hält mit laufendem Motor, und alle Heidelberger, Franzosen und Spanier recken ihre Köpfe in Richtung auf das Einmalige. Und tatsächlich kommt es dann, in Form eines Wurmes, maisgelb und so lahm wie Jim Knopfs Lokomotive. Es ist die Linie 1, die berühmte Linie 1, wie sie aus dem Haus Dennewitzstraße 2/Ecke Pohlstraße kriecht. Eine U- Bahn lahmt mit 30 Kilometern in der Stunde und im leichten Winkel aus einem Haus. Durch eine Stahlbetonbrücke, die 1926 für großes Aufsehen sorgte, heute aber so häßlich ist, daß man sie glatt übersieht.

Die Berlingaffer staunen mächtig, ein paar steigen aus und bannen die Richtung Gleisdreieck dahinkriechende U-Bahn auf ihre Agfa- und Fujifilme. Sowie den bröckelnden Putz, denn wenn eine U-Bahn seit Jahrzehnten ein Haus zerschneidet, kann das nicht folgenlos bleiben.

„Wo die Logik endet, beginnt das Unbegreifliche“, heißt es auf einem Aufkleber, den irgend jemand unter die Briefkästen gepappt hat. Ein Scherzkeks offenbar.

Nicht die Linie 1 und ihr Rasseln, Rumpeln, Holpern nervt Markus Sträter, wenn sie 50 Zentimeter unter seinem Wohn- und Schlafzimmerboden hindurchquietscht. Es sind die Touristenbusse mit ihren Dieselmotoren, seit das Kuriosum Dennewitzstraße 2 Eingang gefunden hat in den überall erhältlichen Standard- Stadtführer. „Wir kommen uns manchmal vor wie im Zoo.“ Und weil Herr Sträter die „eh“ nicht mag und seine Nachbarn „im Prinzip“ auch nicht, reagieren sie auf kein Klingelzeichen von Fremden. Und Journalisten lassen sie auch nur nach tagelangem Betteln ins Wohnzimmer. Oder ins Schlafgemach. Das Futonbett von James Berg, dritter Stock rechts, liegt direkt über der Brückenröhre. Und es liegt dort „gut so“, wie er sagt. Herr Berg, 27 Jahre alt, arbeitet, wie überhaupt fast alle im Haus, für die BVG. Und dirigiert die Züge von Station zu Station. Wenn er Frühdienst hat, steht er morgens auf. Mit dem Sound der Linie 1 im Ohr. Und wenn er abends nach Hause kommt und nach den „Tagesthemen“ erschöpft auf seine Baumwollmatratze fällt, wiegt ihn die 1 wieder in den Schlaf. Dann im Zehn-Minuten-Takt.

Und das ist das höchst Erstaunliche: Ohne das Quietschen und Rumpeln „würde ich was vermissen“, sagt Herr Berg. Mitunter, wenn mal wieder der „Fahrplankiller“ unterwegs ist (so nennen die West-BVGler Ost-U-Bahn-Züge, die bisweilen das ganze System lahmlegen) und alle Züge Verspätung haben, dann wird Herr Berg „unruhig, so blöd sich das auch anhört“. Die Taktlosigkeit also macht ihn unruhig, nicht etwa, daß sein Wohnzimmerboden innerhalb von zwei Jahren um ein paar Zentimeter abgesackt ist. In seiner Freizeit vermeidet Berg U-Bahn- Fahren. Er bevorzugt den Bus, weil man in ihm sehen kann, wo man langfährt. Sein vier Jahre junger Sohn dagegen ist ganz heiß auf die Linie 1. Meist muß James Berg mit seinem Sohn noch vor dem Spielplatz eine Runde U-Bahn fahren. „Und wenn er einschlafen will“, schmunzelt der Vater, „sagt er: ,U-Bahn-Fahren!‘ Und darauf können Sie wetten: Schon nach zwei Stationen pennt der.“

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