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Die ganze Verantwortung lastet auf den Angehörigen

■ Für Schwerstbehinderte gibt es in Hamburg kaum Plätze in Tagesförderstätten Von Mathias Westecker

Peter sitzt zu Hause vor dem Fernseher, blättert in einer bebilderten Zeitschrift, gibt unklare Laute von sich und läßt sich von dem fremden Besucher kaum ablenken. Peter ist 21 Jahre, lebt seit zwei Jahren in Hamburg und hat nie eine Schule besucht. Er ist von Geburt an schwerst-mehrfachbehindert. Bei den meisten alltäglichen Dingen wie Essen, Waschen, An- und Ausziehen ist er auf Hilfe angewiesen. Er muß ständig motiviert werden, um sich zu beschäftigen und Neues auszuprobieren. Seine Mutter, allein für seine Versorgung zuständig, hatte vor einigen Wochen einen Herzinfarkt. Sie meldete ihren Sohn für eine Tagesbetreuung an, um einen Teil der Belastung abzugeben. Voraussichtlich zwei Jahre wird sie auf einen Platz warten müssen.

Petra lebt in einer pädagogisch betreuten Wohngruppe des Kinderheimes Anscharhöhe. Sie hat eine Sonderschule besucht, viel Förderung erhalten und wurde vor anderthalb Jahren regulär ausgeschult. Seitdem wartet sie auf einen Platz in einer Tagesförderstätte. Da sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist, hat sie noch schlechtere Aussichten als andere, einen Platz zu bekommen. Aufgrund der räumlichen und personellen Situation nehmen Tagesförderstätten nur begrenzt Rollstuhlfahrer auf.

Petras MitbewohnerInnen im Kinderheim sind tagsüber unterwegs. Einige gehen noch zur Schule, andere arbeiten in Werkstätten für Behinderte. Für eine Tagesbetreuung ist in der Wohngruppe keine Zeit. Bis zum Nachmittag erledigt das Personal Haushalts- und Büroaufgaben oder betreut die kranken Kinder. Petra ist während dieser Zeit auf sich allein gestellt. Entwicklungsrückschritte und leichte Depressionen treten bei ihr auf. Martina Weise, Heimleiterin im Kinderheim Anscharhöhe: „Im Sommer werden es fünf Schulabgänger sein, die zu Hause sitzen; zwei haben wir jetzt schon. Die Behörde sagt, ihr seid doch ein Heim und könnt die Leute tagsüber betreuen, bedenkt aber nicht, daß unser Stellenschlüssel keine Rund-um-die-Uhr-Betreuung zuläßt“.

Zwei von mehreren Dutzend Beispielen. Schwerbehinderte Menschen, die komplett auf fremde Hilfe angewiesen sind, erhalten keine Tagesbetreuung, geschweige denn pädagogische Förderung. Sie leben isoliert und kommen kaum unter Menschen. Angehörige - meistens die Mütter - stehen allein da mit der zeitaufwendigen, oft auch schweren körperlichen Arbeit. Sie haben keine Pausen zum Regenerieren und können auch nicht berufstätig sein. Zwölf Tagesförderstätten für schwerstbehinderte Erwachsene gibt es in ganz Hamburg. Ungefähr 70 junge Erwachsene stehen allein bei der Kurt-Juster-Heim GmbH, mit 180 Plätzen in sieben verschiedenen Tagesförderstätten der größte Träger, auf der Warteliste. „Was mich am meisten bedrückt, ist, daß wir keine Aussicht haben, in absehbarer Zeit irgendwo eine Einrichtung zu eröffnen. Dieses Problem der nicht ausreichenden Tagesförderstätten-Plätze haben wir nicht früh genug erkannt. In früheren Zeiten haben wir schneller leere Schulgebäude oder staatliche Räume bekommen. Aufgrund der räumlichen Notsituation in Hamburg ist dies keine Chance mehr.“ Karl Stengler, zuständig für die Planung von Behinderteneinrichtungen beim Landesamt für Rehabilitation in der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales bezeichnet die Situation zwar auch als angespannt, sieht aber kein neues Problem. „Wir haben noch nie ein nachfragedeckendes Angebot gehabt, was aber auch planerisch sehr schwierig ist, denn ich weiß heute nicht, wieviel schwerst-mehrfach Behinderte ich in fünf Jahren habe. Wir planen mit mehreren Trägern, und ich hoffe, in den nächsten zwei Jahren gut 50 Plätze zu realisieren. Neue Gebäude sind wahnsinnig teuer und für soziale Belange unbezahlbar.“

Das Kinderheim Anscharhöhe plant seit vier Jahren den Neubau einer Tagesförderstätte, durch Verzögerungen und Verhandlungen mit dem Landesamt für Rehabilitation steht immer noch nicht fest, wann mit dem Bau begonnen werden kann. Auch das Deutsche Rote Kreuz Altona wollte seine bestehende Tagesförderstätte durch einen Neubau erweitern. Von den Hamburger Behörden war jedoch keine Investitionszusage zu erhalten: Die Pläne vergilben nun in der Schublade.

Das Landesamt für Rehabilitation unterstützt die Gründung von Tagesförderstätten und übernimmt die laufenden Kosten, finanziert kurz- und mittelfristig jedoch nicht den Bau neuer Einrichtungen. Auch andere überregionale Mittel sind nicht zu bekommen. So sind die Sozialverbände als Träger von Tagesförderstätten aufgrund fehlender Eigenmittel auf das Anmieten von Räumen oder auf die Kooperation mit Bauträgern angewiesen, um neue Einrichtungen zu schaffen.

Langfristig möchte das Landesamt für Rehabilitation Tagesförderstätten an die Werkstätten für Behinderte angliedern. Neben Kostenerwägungen soll die strikte Trennung zwischen den Systemen „Arbeit und Förderung“ aufgebrochen werden. Auch die Elbe-Werkstätten, eine von vier Hamburger Werkstätten für Behinderte, planen eine separate Tagesförderstätte. All diese Planungen bieten keine kurzfristigen Lösungen für die Betroffenen, ein Ansteigen der Schulabgänger, welche einen Tagesförderstättenplatz brauchen, ist für 1994 und 95 absehbar.

Horst Rudolph, Gründer einer Initiative betroffener Eltern, hat dreieinhalb Jahre gebraucht, um für seinen Bruder einen Tagesförderplatz zu erstreiten. Andere Angehörige und Eltern, so Rudolph, „haben überwiegend keine Erfahrung im Umgang mit Behörden, tragen eher ihre Last und kommen nicht auf die Idee, Forderungen für ihre Angehörigen zu stellen. Sie sind als Bittsteller in der Behörde und kennen ihr Recht nicht.“

Alle Beteiligten beim Landesamt und bei den Sozialverbänden empfehlen Angehörigen von schwerstbehinderten Menschen, sich pädagogische Hilfe stundenweise in die Familien zu holen, ihre Kinder auf Ferienreisen zu schicken oder für einige Wochen in eine Wohngruppe zu geben, um selbst wieder Kraft zu tanken. Eine frühzeitige Anmeldung bei den Trägern und Klärung der Kostenübernahme bei der Sozialbehörde ist auf jeden Fall zu empfehlen.

Der Autor ist Leiter einer Tagesförderstätte der Kurt-Juster-Heim Gesellschaft

Für Kontakt mit der Elterninitiative: Horst Rudolph, Tel. 040/ 654 55 58

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