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■ Der Politologe Iring Fetscher zur Erklärung der SozialwissenschaftlerInnen über den Standort DeutschlandMangelt es an Kommunistenfurcht?

Iring Fetscher, Mitunterzeichner der Erklärung von SozialwissenschaftlerInnen zur „Solidarität am Standort Deutschland“, hat sich vor allem mit der Geschichte der politischen Theorien und insbesondere mit dem Marxismus befaßt.

taz: Zum erstenmal mischen sich SozialwissenschaftlerInnen spektakulär in eine öffentliche Debatte ein. Sind sie plötzlich aufgewacht?

Iring Fetscher: Anstoß war, daß in Deutschland von Jahr zu Jahr mehr Menschen arbeitslos werden und man trotzdem den Eindruck hat, daß Politiker fast aller Parteien diese Tatsache nicht ernst genug nehmen. Statt sich energisch zu bemühen, tun sie so, als ob der prognostizierte Wirtschaftsaufschwung dieses Problem lösen würde – obgleich man doch ganz genau weiß, daß die Verbesserungen der betriebswirtschaftlichen Situation auf dem Rücken der Arbeitnehmer vor sich gehen.

Initiiert wurde dieser Aufruf von Jesuiten, vom Nell-Breuning- Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Schließen sich jetzt verschiedene gesellschaftliche Gruppen zur Verteidigung des Sozialstaats zusammen?

Das ist durchaus denkbar. Es ist sehr erfreulich, daß der Anstoß von diesem Institut ausging, weil damit die Diffamierung, die in solchen Fällen leicht stattfindet, erschwert wird. Es gibt unter den sozialpolitischen Katholiken – außerhalb der CDU – seit jeher das Bewußtsein, daß Arbeitslosigkeit unter sozialethischen Gesichtspunkten zu betrachten ist. Es ist ja auch eine Frage der Gerechtigkeit. Aber so wird nur noch selten diskutiert.

Daß der Sozialstaat scheibenweise abgetragen wird, scheint kaum jemanden aufzuregen.

Dabei war ein Vorzug der Bundesrepublik gegenüber anderen Standorten bisher eine relativ starke soziale Absicherung und – bis vor acht Jahren – eine geringe Arbeitslosigkeit. Seither wachsen die Arbeitslosenzahlen, und die Sozialleistungen werden sukzessive abgebaut. Nach traditioneller ökonomischer Auffassung müßte dies zu einer Verstärkung der Krise führen, weil die Kaufkraft nachläßt, wenn die unteren Einkommen gekürzt werden. Das Gegenteil von dem, was eigentlich angebracht wäre, passiert. Natürlich kann man, betriebswirtschaflich kalkuliert, mit weniger Arbeit mehr produzieren und so höhere Gewinne erzielen. Aber das ist keine Methode, um eine Gesellschaft sozial gerecht zu gestalten. Außerdem müßte die Krise auch den ökologischen Umbau ermöglichen, und davon kann im Moment keine Rede sein. Es wird wieder in ganz altmodischer Weise auf Wachstum spekuliert. Auch wenn man durch Exportsteigerung die gegenwärtige wirtschaftliche Situation korrigieren will, heißt das nur, daß an anderer Stelle in der Welt entsprechend negative Leistungsbilanzen erzeugt werden. Das kann langfristig nicht Sinn einer vernünftigen weltwirtschaftlichen Entwicklung sein.

In Ihrer Erklärung wird der Sozialstaat zum Verfassungsauftrag.

In mehreren Artikeln des Grundgesetzes ist von föderaler und sozialer Demokratie die Rede. Wenn das mehr sein soll als ein bloßes Lippenbekenntnis, ist es in der Tat ein wichtiger Verfassungsauftrag. Den nehmen die Poliker aber nicht ernst.

Heißt es umgekehrt, daß die Verfassung durch die Abschaffung des Sozialstaats in Gefahr ist?

Ja. Der Verdruß über Politiker liegt ja unter anderem daran, daß die Bevölkerung den Eindruck hat, daß sie die wirklich wichtigen Fragen nicht anpacken, sondern sich um drittrangige Probleme wie den Out-of-area-Einsatz der Bundeswehr kümmern oder auf die Asyldebatte ablenken. Das sind doch nicht die zentralen Probleme, die lenken nur von den eigentlichen Aufgaben ab.

Sie sprechen vom Sozialstaat auch als Mittel gegen den Nationalismus.

Es besteht ja kein Zweifel, daß insbesondere die arbeitslosen Jugendlichen im Fremdenhaß ein Ventil für ihre Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit finden.

Wollen Sie das nach dem Motto lösen: Eine saturierte Gesellschaft ist eine friedliche Gesellschaft? Dabei ist doch das Beharren auf der Wohlstandsgesellschaft der Tod im Topf.

Der Ruf, den Gürtel enger zu schnallen, kommt immer von denen, die durch ihre eigene Lebensführung wahrlich kein Vorbild sind. Das Groteske ist doch, daß man dies von den unteren Einkommensempfängern fordert. Soziale Gerechtigkeit ist doch nicht das Problem des einen Drittels der Gesellschaft. Ich sehe bei der oberen Gruppe mehr Anlaß zur Bescheidenheit.

Werden Politiker Sie in Ihren Forderungen ernst nehmen?

Abwarten. Sie sollen unter Druck geraten und sich bewegen.

Und die Wirtschaft?

Für mich wäre die wichtigste Korrektur im Bewußtsein, daß von der betriebswirtschaftlichen zur volks- und weltwirtschaftlichen Betrachtung übergegangen wird. Eine Weltwirtschaft, die nicht in die Katastrophe führt. Dazu gehört, daß der betriebswirtschaftliche Egoismus – der volkswirtschaftlich letztlich sogar schädlich ist – korrigiert wird. Wir können unsere Probleme nicht auf Dauer auf dem Rücken der anderen Länder lösen. Das ist simpel und noch nicht einmal sozialethisch, sondern rein wirtschaftspolitisch gedacht. Auf dieser Ebene lassen sich vielleicht auch Wirtschaftsleute überzeugen.

Als Glaubensbekenntnis ganz schön, aber woher nehmen Sie die Zuversicht, daß sich die Wirtschaft von anderen als kurz- und mittelfristigen Profitinteressen leiten lassen wird?

Momentan haben wir tatsächlich eine Hinwendung zurück zum Manchesterkapitalismus – obgleich die Beispiele aus Großbritannien und den USA doch zeigen, wie katastrophal sich das auswirkt. Bei uns wird noch immer nicht zur Kenntnis genommen, daß dieser Neokonservatismus gescheitert ist.

Ich bezweifle, daß es ein Frage der Wahrnehmung ist...

Dann wird es verdrängt...

...oder akzeptiert.

Man könnte auch sagen, daß die Angst vor dem Kommunismus fehlt, die früher doch einige Unternehmer zur Vernunft gebracht hat. Pfleiderer, der ehemalige Präsident der Landesbank Stuttgart, sagte es so: „Ha noi, ohne die Kommunischtefurcht hättet mir kein Sozialstaat gekriegt!“ Jetzt gibt es ihn nicht mehr, woraus wohl manche in den Wirtschaftsetagen die falsche Schlußfolgerung ziehen: Da braucht man auch den Sozialstaat nicht mehr. Die zentrale Planökonomie ist natürlich nicht die Alternative. Aber zwischen Manchesterkapitalismus und Planwirtschaft gibt es ja weiß Gott noch eine Reihe anderer Möglichkeiten.

Zum Beispiel den Umbau des Sozialstaats, den Sie fordern. Wie soll der aussehen?

Ich kann besser sagen, was verkehrt ist. Bei der Diskussion um unsere Wirtschafts- und Finanzpolitik wird nicht gesehen, daß die Staatsverschuldung nicht nur eine Verschiebung von Lasten von der Gegenwart auf die Zukunft ist, sondern auch eine Verschiebung von oben nach unten. Denn Verschulden heißt, daß ein kleiner Teil der Bundesbürger regelmäßig hohe Zinsen für geborgtes Geld bekommt und daß die Zinsen von Mehrwert- und Lohnsteuer aufgebracht werden müssen, das heißt von unteren und allenfalls noch mittleren Einkommen. Das ist keine sehr kluge Sache. Das Wegnehmen bei unteren Einkommensschichten schränkt die Konsummöglichkeiten ein. Das ist nur sinnvoll, wenn der Staat diese Einnahmen für Infrastrukturinvestitionen verwendet, die von Privaten nicht vorgenommen werden, heute also in erster Linie Investitionen in den ökologischen Umbau. Eine positive Sache wäre die Garantie eines Grundeinkommens.

Wie wollen Sie das finanzieren?

Sicher könnte man Betrieben, die keine ausreichenden Löhne zahlen können, weil sie dann nicht mehr konkurrenzfähig wären, in einer degressiven Weise Zusatzzahlungen geben – damit sie ihre Arbeiter behalten können, statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Das wäre wahrscheinlich sogar billiger, wäre für die Betroffenen psychisch weniger belastend und wäre für die Unternehmen wohl auch akzeptabel. In den neuen Bundesländern wäre das sicher in vielen Fällen gegangen. Dieser Vorschlag kam ja auch gar nicht aus der linken Ecke, sondern von liberalen Wirtschaftswissenschaftlern. Das müßte alles genau durchdacht werden, aber momentan werden überhaupt keine systematischen Überlegungen angestellt, wie man weiter verfahren soll. Es heißt einfach: weiter so! Dann wird die Arbeitslosigkeit schon verschwinden.

Sie betonen so vehement das Recht auf Arbeit. Halten Sie an den traditionellen Vorstellungen der Arbeitsgesellschaft fest?

Nein! Viele notwendige Tätigkeiten werden ja nicht finanziert, sondern ehrenamtlich oder gar nicht ausgeführt. Da ist die Notwendigkeit der Veränderung evident. Auf der anderen Seite kann Abkehr von der Arbeitsgesellschaft nicht heißen, daß ein Teil der Gesellschaft keine bezahlte und sozial anerkannte Beschäftigung hat. Interview: Bascha Mika

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