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Lokaler Humus ist nicht kalkulierbar

Wo eigentlich wurzeln die Berliner Varietés? Betrachtungen an einem Premierentag  ■ Von Michael Naether

Herr Schwenkow, vielleicht ein leicht verspäteter Wirtschaftswunder-Entertainer, versteht die Welt des Varietés nicht mehr... „In fünfzig Jahren ist alles vorbei...“ hatte da ein einstiger Bühnenarbeiter namens Otto Pfützenreuter, dann „Reutter“, im Berliner Wintergarten vorausgesungen. Und dies noch kurz vor seinem Tode am 15. März 1931, noch ehe ihn Tucholsky in der Weltbühne rühmte: „Er schwitzt nicht, er brüllt nicht, er haucht seine Pointen in die Luft, und alles liegt auf dem Bauch.“

Das war noch an der Friedrichstraße. Heute dagegen, in der Potsdamer Straße, beklagt der Wintergarten-Epigone Peter Schwenkow „das Fehlen von Talenten wie Otto Reutter“; namentlich im eigenen Hause. Daß ein Chansonnier wie Reutter seinerzeit eine dreißigjährige künstlerische Entwicklung durchlief, bis seine Couplets im Marktwert von 240 auf 30.000 Mark stiegen, müßte einem traditionsbewußten Marketing-Magier indes geläufig sein.

Vermutlich braucht so ein Mensch wie Reutter auch heute noch das halbe Leben für solche Kunst – und vermutlich weniger die „schnelle Mark“. Weniger als Talente dürfte wohl die Zeit gefehlt haben, nachdem bereits ab 1933 „alles vorbei“ war, was nicht zuletzt den Geist des alten Wintergartens betrifft, der ebenso wie die Berliner Scala ausgebombt wurde. Und in den Friedrichstadtpalast des Kalten Krieges kehrte er bekanntlich nicht zurück. Erst in der Scheinbar klopfte er um Mitternacht manchmal leise an die ungeputzten Fenster – nicht zu laut, um die Nachbarn nicht zu stören.

Ja, so ungefähr war das – und als die scheinbaren Nachbarn schließlich doch erweckt werden mußten, da trauten sie ihren Augen nicht: Fast vor ihrer Haustür war ein funkelnagelneues Wintergarten-Varieté entstanden – wie aus dem Ärmel geschüttelt. Mit dem „Service astreiner Toiletten, hinreichender Belüftung“, wie ein benachbartes Feuilleton aus der Potsdamer Straße sachkundig bemerkte. „Wenn die Besucher des Wintergartens“, fügte Schwenkow hinzu, „vorher zum Friseur gehen und sich schön anziehen, dann tun sie das doch auch aus Respekt vor dem Haus.“

Nun hat das plüschene Wunderkind kaum einen uralten Namen erhalten, da steckt es auch schon in gewissen Wachstumsschwierigkeiten. Sicherlich kein totgeborenes Kind – nur, so wird selbst im inneren Kreis vermerkt: Die Shows werden von Premiere zu Premiere schwächer, „und das Publikum, biologisch bedingt, auch...“ Man sei als Kulturbetrieb in der Hauptstadt ziemlich isoliert, vom Ostteil sowieso, und von der Szene, „dem lokalen künstlerischen Humus“, überhaupt. Ausreichender Nachwuchs fehle auf der Bühne, um vom feinen Zuschauerraum nicht zu reden. Es fehle eben die Jugend.

Der Wintergarten, meint der Werbe- und Kommunikationswissenschaftler Schwenkow, und das Chamäleon – „auch ein gutes Varieté“... – sollten sich verbünden und dabei voneinander lernen. Ob die Offerte ihren Addressaten erreicht? „Hier gibt es kein Varieté, das mit unserem vergleichbar wäre“, bedauert Chamäleon-Gesellschafter und Clown Hacki Ginda. „Solange sind wir unsere eigene Konkurrenz – bereits im vierten Jahr...“ – Wie schon Brehms Tierleben zum Chamäleon sagte: „Der innere Bau ist nicht minder merkwürdig als der äußere.“

Der Aufbau dieses Instituts artistischer Intelligenz auf den Hackeschen Höfen war schließlich, man weiß es, innerhalb der Jahre über die Anfangsversuche vieler kleinerer Initiativen erfolgt, also nicht aus irgendeinem Füllhorn herausgezaubert worden. Offenbar war dabei genug Gelegenheit gewesen, etwa in der Scheinbar, die Bedingungen und Erwartungen in der Lokalszene aufzuspüren. Und – wer hätte das gedacht? – unter ähnlichen Voraussetzungen hatte sich anno 1888 auch der historische Wintergarten etabliert. Dies auf dem Fundament zahlloser Kleinkunstbühnen in Sommergärten, wo es hieß: „Hier können Familien Kaffee kochen!“

Die aus dem Boden gestampfte Varieté-Kette um Schwenkows „Berlin Entertainment Companies“, zusammengehalten von André Heller und Bernhard Paul, glaubt vielmehr, im Zeitraffer an eine Geschichte nahtlos anknüpfen zu können, die mit Hitlers Einzug in die Wintergarten-Ehrenloge ein für allemal beendet war. Jetzt also ein Veteranen-Varieté in einem historischen Vakuum? Nein, weiß Schwenkow: „In diesen Zeiten, in denen wir immer konzentrierter arbeiten müssen, brauchen wir auch mehr Befreiung. Ich arbeite also in einer Wachstumsbranche.“ Innerhalb der nächsten zwanzig Monate werde es mindestens fünf „gute Varietés“ im Lande geben – seine eigenen. Allerdings könne er nicht voraussagen, ob sie in acht Jahren „noch Bedeutung“ hätten. Alles noch viel früher vorbei als nach Otto Reutter? Nun, für die nächsten Wochen will er ab heute abend erst einmal ein „Punker-Chamäleon“ präsentieren, „Fantasissimo“ von Arturo Brachetti. Der Kunde, so der eigene Qualitätsvergleich unter Berücksichtigung der stattlichen Eintrittspreise, könne „sich die Schrankwand auch nächstes Jahr noch kaufen“.

„Fantasissimo“, heute abend, 20 Uhr, Wintergarten, Potsdamer Straße 96, Tiergarten.

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