Carlos im Klartraumland Von Mathias Bröckers

Klarträumen ist die aufregendste Bewußtseinstechnik, die ich kenne – so aufregend, daß ich über ein paar Sekunden im Klartraumland noch nie hinausgekommen bin. Bei diesem luziden Träumen geht es ganz einfach darum, sich im Traum bewußt zu werden, daß man träumt, und dann zu versuchen die Traumregie zu übernehmen. Das funktioniert, und zwar so gut, daß ich vor lauter Begeisterung darüber regelmäßig aufwache. Das letzte Mal sprach ich mit zwei Freunden über einen Schriftsteller und wollte im Nebenzimmer ein Buch holen, doch der Raum hatte sich vollkommen verändert: er war fast leer, eine Leiter stand herum, es wurde offenbar renoviert. Ich blickte in das Zimmer meiner Tochter, auch hier sah es ganz anders aus, merkwürdigerweise stand eines der fehlenden Bücherregale jetzt hier. Im Flur, die beiden veränderten Zimmer im Auge, wurde mir bewußt, daß es sich hier um einen Traum handelt. Sofort versuchte ich, die aufkommende Freude darüber zu unterdrücken: „Nur nicht wieder aufwachen, bleib ruhig, atme regelmäßig“, redete ich mir ein. Es gelang mir, den Zustand zu stabilisieren, ich stand ruhig im Flur und musterte die unbekannte Leiter in meinem Zimmer und das Chaos nebenan. Wie jetzt die Regie in diesem Traum übernehmen? Ich faßte den Entschluß, ins Wohnzimmer zurückzugehen und die beiden Freunde damit zu konfrontieren, daß sie nur Trauminventar sind – doch auf der Türschwelle, als ich mir erregt die Verwicklungen dieser Diskussion ausmalte und gerade zu sprechen beginnen wollte, überwältigte mich die Aufregung, und ein Adrenalinstoß katapultierte das Bewußtsein aus den unendlichen Weiten der Klartraumwelt in die schnöde Realität meines Betts: ich war wach. Und einmal mehr gescheitert auf dem absolut spannendsten Abenteuertrip, den diese Welt zu bieten hat.

„Die Kunst des Träumens“ heißt ein neues Buch, mit dem sich der Anthropologe und Bewußtseinsforscher Carlos Castaneda nach sechs Jahren des Schweigens zurückgemeldet hat und in dem er von seinen jahrelangen Übungen im Erreichen der perfekten Traum- Aufmerksamkeit berichtet (Fischer-Verlag). Träume, so hatte ihm sein Lehrer Don Juan erklärt, sind das „Schlupfloch in andere Sphären der Wahrnehmung. Durch dieses Schlupfloch sickern Ströme fremder Energie ein. Die Zauberer machen sich diese fremden Energieströme bewußt... Wenn wir ihnen bis zum Ursprung folgen, können sie uns als Führer in andere Regionen dienen.“ Ohne meine eigenen kurzen Klartraum- Trips hätte ich das vermutlich weitgehend für Unsinn gehalten – so aber las ich Castanedas Erfahrungsbericht wie ein Amateurkicker den Trainingsfahrplan eines Top-Profis – und stellte fest, daß ich jeweils schon an der ersten „Traumpforte“ gescheitert war.

Um sämtliche Regionen des Klartraumlands bis hinein in die Bewußtseinsebene der anorganischen Materie zu erkunden, müssen noch drei weitere Schwellen überwunden werden. Anders als das Wunderland der kleinen Alice ist das Klartraumland kein Märchen, sondern echter, authentischer und sinnlich direkter erfahrbar als die wirkliche Wirklichkeit. Du mußt nur einschlafen, ohne einzuschlafen, aufwachen, ohne wach zu werden. Gratisflüge für alle gibt's jede Nacht von jedem individuellen Dreamport.