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Zwischen der „Invasion“ und dem Attentat

■ Der Sicherheitsdienst: „schleichende Panikstimmung bei den Volksgenossen“

Der 20. Juli 1944 brachte dem 16jährigen Berliner Flakhelfer und Hitlerjungen Dieter Borkowski einen schrecklichen Wirrwarr der Gefühle. Erst küßte ihn die schöne Marussja, eine ukrainische Zwangsarbeiterin, als er für sie in ihrer kargen Freizeit den Fremdenführer spielte. Dann aber stieß sie ihn vor den Kopf. „Stalin wird gewinnen“, sagte sie, „und er wird schreckliche Rache nehmen.“ Nachts hörte Dieter die Ansprache „des Führers“, der dank Gottes Fügung soeben das Attentat auf der Wolfsschanze überlebt hatte. Dieter überfiel bleierne Müdigkeit. Seinem Tagebuch vertraute er an: „Im Einschlafen dachte ich zu meiner Schande nicht an den Führer, sondern ich sah Marussja mit mir an der Havel sitzen.“

Sechs Wochen vorher, am Tage der „Invasion“ in der Normandie, war Dieter noch kein bißchen angekränkelt. „Eben hören wir den Wehrmachtsbericht... Die Invasion hat begonnen, der letzte Abschnitt des Krieges, auf den alle Menschen in Deutschland und Europa schon so lange warten. Vielleicht kommt meine Einberufung schon zu spät, falls der Führer die Wunderwaffen jetzt einsetzt?“

Heinz Knobloch, Obergrenadier und bei Saint-Lô eingesetzt, um die Amerikaner „ins Meer zurückzutreiben“, gelang es endlich, am 27. Juli, zu desertieren. Im schottischen Kriegsgefangenenlager kritzelt er auf Klopapier: „Was den 20. Juli angeht, der uns am Wäldchen Jugan bei Saint-Lô nicht einmal streifte – erst anderntags ging ein fremder Feldwebel an unseren Erdlöchern vorbei und sagte laut ,Beinahe hätten wir den Frieden gehabt‘. Da wir aber nur beinahe den Frieden gehabt hätten, betraf es uns nicht. Wir wollten den richtigen.“

Am 20. Juli notiert der Dachauer KZ-Häftling Kupfer-Koberwitz in sein unter Lebensgefahr geführtes Tagebuch: „Im Lager nahm man den Häftlingen einige Tausend Decken und gab ihnen Papiersäcke, darin zu schlafen. Die Decken werden für die Obdachlosen in München gebraucht.“ Im Juni und Juli erlebt die „Hauptstadt der Bewegung“ eine fast ununterbrochene Kette von Luftangriffen an hellichtem Tag.

Was dachten die Deutschen zwischen dem 6. Juni, dem Datum der Landung in der Normandie, und dem 20. Juli, dem gescheiterten Attentat gegen Hitler? Seit 1938 lieferte eine Abteilung des Sicherheitsdienstes (SD) der SS, getützt auf die Informationen von 30.000 „ehrenamtlichen Mitarbeitern“ zweimal wöchentlich „Meldungen aus dem Reich“. Sie sollten, so die Absicht der Autoren, ein „ungeschminktes Bild auf allen Lebensgebieten“ vermitteln. Schon Ende 1943 stellen die Berichte eine „tiefe Friedenssehnsucht“ bei der Bevölkerung fest. Man hofft „in tiefer Sorge und Angst“ auf „das große Wunder“, das die „Vergeltungswaffen“ bewirken sollen. Zu Beginn der „Invasion“ in der Normandie ist nach den SD-Berichten die Stimmung zunächst euphorisch. „Durch die Bevölkerung ging ein befreites Aufatmen. Gott sei Dank, nun kann es losgehen.“ Umso tiefer ist die Enttäuschung, als klar wird, daß der Vormarsch der Alliierten nicht aufzuhalten ist. Der SD konstatiert eine „starke stimmungsmäßige Beeindruckung der Volksgenossen“. Nicht nur Beunruhigung, sondern „schleichende Panikstimmung“ ruft schließlich der Vormarsch der sowjetischen Armeen seit dem 22. Juni hervor. „Man hört“, so der SD, „aus allen Kreisen größere Vorwürfe gegen die Führung, die es dazu habe kommen lassen, daß der Feind vor der Reichsgrenze stehe.“

Für die Verschwörer des 20. Juli wirkten beide Ereignisse, die Landung der Alliierten und die Offensive der Roten Armee, wie ein letztes Warnzeichen, endlich das Attentat und – darauf folgend – den Umsturz zu bewerkstelligen. Claus von Stauffenberg war von Cäsar von Hofacker, dem Adjutanten General von Stülpnagels, des Frankreich-Befehlshabers, über die aussichtslose Lage an der Normandiefront ins Bild gesetzt worden. Mehrfach war er nach der Landung der Alliierten und dem Beginn der sowjetischen Offensive mit dem Sprengstoff in der Tasche zu Lagebesprechungen ins bayrische Führerhauptquartier gefahren – und immer war das Attentat abgeblasen worden: Himmler und Bormann, deren zeitgleiche Beseitigung den Verschwörern unerlässlich erschien, hatten jedesmal kurzfristig abgesagt. So entschloß sich der schwer kriegsverletzte Stauffenberg Mitte Juli, das Attentat selbst auszuführen, im Führerhauptquartier Wolfsschanze.

Wären die Verschwörer, falls das Attentat geglückt wäre, im Volk auf Widerstand gestoßen? Heinz Boberach, der Herausgeber der SD-Berichte, hält das für wenig wahrscheinlich. Freilich: „Ebenso konnten sie keine begeisterte Zustimmung erwarten, sondern denselben Gehorsam, den das Volk noch einmal für neun Monate Hitler entgegenbrachte, obwohl es nicht mehr an den Sieg des Nationalsozialismus glaubte.“ Nicht hier lag die Fehlkalkulation der Verschwörer, sondern in ihren Illusionen bezüglich „des Feindes“. Trotz vielfacher Informationen hingen die Widerständler des 20. Juli dem Glauben an, die westlichen Alliierten würden ihnen vorweg Zusicherungen über die Behandlung Deutschlands nach einem Waffenstillstand geben. Goerdeler selbst, Adam von Trott zu Solz und vor ihnen Dietrich Bonhoeffer überschütteten ihre Gesprächspartner mit Projekten einer europäischen Neuordnung, ohne daß die westlichen Regierungen sie je einer Antwort gewürdigt hätten. Das focht sie nicht an. Einige der aktivsten Verschwörer, darunter auch Stauffenberg, waren der Auffassung, das Deutsche Reich könne in den Grenzen von 1914 erhalten werden. Wenn auch niemand in der Lage ist, zu sagen, was die westlichen Allierten im Fall eines geglückten Putschs tatsächlich getan hätten – die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation, beschlossen in Casablanca, wäre nicht leicht widerrufbar gewesen. Sie legte die Westmächte fest und entzog jeder Verhandlungslösung die Grundlage. Sie band die Deutschen an ihre Führung – bis zum bitteren Ende. Auch den erfolgreichen Verschwörern wäre nichts geblieben als die bedingungslose Übergabe. Hunderttausende von Menschenleben wären gerettet worden – aber ebenso der Mythos des Nazismus und damit die Dolchstoßlegende. Christian Semler

„Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus“. Hrsg. Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach, München 1994

Heinz Knobloch: „Nase im Wind“.

Berlin 1994

Dieter Borkowski: „Wer weiß, wann wir uns wiedersehen“. Berlin 1994

Heinz Boberach (Hrsg): „Meldungen aus dem Reich“. 17 Bände, Herrsching 1984

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