: Was wäre gewesen, wenn ...
■ Anfang und Ende der studentischen Demokratiebewegung in China 1989 Gibt es nach Tiananmen noch Reformkräfte in der Partei?
Laßt uns einen schrecklichen Augenblick lang überlegen, was geschehen wäre, wenn ... Wenn in der DDR damals, 1989, nicht eine völlig zermürbte, von ihrem Schutzherrn Gorbatschow wie von immer größeren Teilen ihrer Bevölkerung verlassene Greisenschar die Herrschaft ausgeübt hätte. Sondern eine entschlossene, von ihrer historischen Mission überzeugte Truppe von Gewalttätern. Eigentlich müßten zum fünften Jahrestag des Endes der chinesischen Demokratiebewegung in der ehemaligen DDR Massenkundgebungen stattfinden, wo die, die das bessere Los gezogen haben, derer gedenken, die Opfer der „Tiananmen-Lösung“ wurden. Aber die Geschichte ist eben nichts als der Strick, an dem das historische Gedächtnis baumelt, und deshalb gibt es bei uns anläßlich dieses Jahrestages kein Innehalten.
Wir haben uns angewöhnt, vom Ende des Realsozialismus zu sprechen und dabei die winzige Kleinigkeit von über einer Milliarde Menschen vergessen, die ihm nach wie vor unterworfen sind. Und wir sprechen vom Pekinger Frühling als quasi vorgeschichtlichem Ereignis. Dabei könnten uns die jüngsten Veröffentlichungen von Human Rights in Asia und amnesty international über die steigende Zahl der Verhaftungen von politisch, religiös oder kulturell Andersdenkenden belehren. Wir könnten wissen, daß der demokratische Widerstand sich in China von neuem zu regen beginnt.
Was wir zum Jahrestag vorweisen können, sind solide politologische und historische „Aufarbeitungen“. Der Sinologe Thomas Reichenbach war zum Zeitpunkt der blutigen „Ereignisse“ in Peking und hat von dort aus auch für die taz berichtet. Seine Dissertation „Die Demokratiebewegung in China“, jetzt in der Reihe des Instituts für Asienkunde publiziert, vereinigt das Wissen des engagierten, teilnehmenden Beobachters mit genauer Materialkenntnis. Reichenbach versteht sich als Soziologe gesellschaftlicher Bewegungen und will die Frage klären, unter welcher Chancenkonstellation, auf Grund welcher Ressourcen und vermittels welcher Methoden es den Studenten gelang, sich selbst und dazu noch einige Millionen ihrer Mitbürger zu mobilisieren. Mit erfrischender Unbekümmertheit rührt er diverse Theorieansätze zusammen, um mit ihrer Hilfe folgendes Bild zu entwerfen:
Die Demokratiebewegung entstand nicht aus dem Nichts, sondern basierte auf einer zyklischen Protestbewegung, die bis in die siebziger Jahre zurückreicht. Auf diesem Humus wuchs die wirklich beeindruckende Fähigkeit der Studenten zur Selbstorganisation, die Leichtigkeit, mit der sie Aktions- wie Organisationsformen erfanden und wieder verwarfen. Die Studenten verfügten zu Beginn der Revolte weder über Strategien noch Programme. Sie handelten – durchaus im Rahmen des Systems! – aus einem moralischen Impetus, der tief im traditionellen Selbstverständnis der intellektuellen Eliten verankert war. Der oft pathetische Symbolismus der Selbstaufopferung für die Gemeinschaft, der im Hungerstreik auf dem Tiananmen eine reale Zuspitzung erfuhr, verfehlte nicht seine Massenwirkung – vor allem nicht auf die hauptstädtische intellektuelle Elite. Vor allem aber gelang es den Studenten in einem völlig unvermuteten Ausmaß, die Arbeiter Pekings für sich zu gewinnen.
In der letzten Phase der Revolte zerriß das Kontrollnetz des Staates, es kam zu Massenstreiks und zu ersten Ansätzen unabhängiger gewerkschaftlicher Selbstorganisation. Reichenbach, der uns hier empirisches Neuland erschließt, betont die politischen, übers „tradeunionistische“ Bewußtsein weit hinausgehenden Motive der Arbeiter. Es war nicht zuletzt der Auftritt der vorgeblich „herrschenden Klasse“ auf der historischen Bühne, der die vorgeblich dem Volke „dienende“ Machtelite zu ihren mörderischen Entschlüssen brachte.
Aber natürlich lag in der Stärke der Demokratiebewegung auch ihre Schwäche. Wer sich aus einem existentiellen Antrieb heraus in die Bresche warf, vertraute nur noch der Logik des Alles-oder-nichts, mißtraute taktischen Erwägungen: vor allem, als es darum ging, auzuloten, ob und in welchem Umfang ein Bündnis mit den entschiedeneren Reformkräften der Partei, insbesondere mit dem Parteivorsitzenden Zhao Zeyang möglich war. Hier gerät der sonst so urteilssichere Thomas Reichenbach ins Schwimmen. Für ihn ist Zhao der Vertreter des Neoautoritarismus, einzig bestrebt, die Demokratiebewegung für die Zwecke des Machtkampfs mit den „Konservativen“ zu instrumentalisieren.
Peter Schier ist hier, in der dritten Neuauflage seines Dokumentarbandes „Studentenprotest und Repression in China April–Juni 1989“ (1993) etwas anderer Ansicht. Schier hat zusammen mit Ruth Cremerius und Doris Fischer die Sammlung nicht nur um zahlreiche Berichte „aus der Provinz“ erweitert. Er hat vor allem neue Dokumente des innerparteilichen Richtungsstreits am Vorabend und während des „konterrevolutionären Aufruhrs“ aufgetan. Innerhalb ihres Vier-Elemente-Schemas der Machtelite: orthodoxe MLer, Sowjetmodell-Sanierer, konservative Reformkräfte und radikale Reformkräfte rechnen die Autoren Deng zur dritten, Zhao Zeyang und seine Berater aber entschieden zur vierten Kategorie. Ihrer Meinung nach trat Zhao für die Trennung von Partei und Staat, für die Stärkung des Volkskongresses und für ein unabhängiges Rechtssystem ein, näherte sich also dem Programm des „frühen“ Gorbatschow. Wenn dem so war, hätte es sich für die „Führer“ der Demokratiebewegung gelohnt, schon am Anfang der Revolte klare Bündnisangebote in Richtung der Reformergruppe Zhaos abzugeben.
Für Schier ist das freilich eine letztlich irrelevante Hypothese. Denn Zhao konnte und wollte nicht gegen Deng antreten, und der war seit Ende April entschlossen, die Demokratiebewegung zu zertreten. Aber haben damit die liberalen Modernisierer in der Partei ein für allemal jede Bedeutung für den Kampf um Demokratie eingebüßt? Thomas Reichenbach neigt dieser Auffassung zu, Schier und die Seinen sind sich da nicht so sicher. Christian Semler
Thomas Reichenbach: „Die Demokratiebewegung in China“, Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg, 1994, 360 Seiten, 34 Mark
Peter Schier, Ruth Cremerius, Doris Fischer: „Studentenprotest und Repression in China April–Juni 1989“, ebd., Hamburg 1993, 655 Seiten, 48 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen