: Larvierte Angstneurose
■ betr.: „Eine Odyssee durch die Arztpraxen“ (das chronische Mü digkeitssyndrom), taz vom 9.5.94
Leider ist tatsächlich bei Medizinern kaum bekannt, daß die Symptomkombination abnorme Müdigkeit mit multilokalen Schmerzen bereits von Sigmund Freud vor 100 Jahren als larvierte Angstneurose beschrieben wurde. Sonst könnten die Beschwerden der Betroffenen auf Anhieb als somatisierte Angst diagnostiziert werden. Es handelt sich beim Chronic-fatigue-Syndrom also nicht, wie der Artikel vorgibt, um eine neue Epidemie, sondern um ein altes Syndrom, das lediglich unter neuem Namen gehandelt wird. Angststörungen treten überwiegend körperlich in Form von Schwindel, Luftnot, Muskel- und Gelenkschmerzen in Erscheinung, bei längerem Verlauf als chronische Müdigkeit. Eine Medizin, die den biograpphischen und gesellschaftlichen Ursachen nicht nachgehen will, kann deshalb ihre Akrobatik, Angst mit somatophilen Verlegenheitsdiagnosen (Rheuma, Fibromyalgie heute: Chronic-fatigue-Syndrom) zu neutralisieren, immer weiter betreiben und mit aufgeplusterten Untersuchungen, deren Ergebnisse eine Immunreaktion oder „Immunschwäche“ vortäuschen, das Angstproblem verscheuchen. Infekte – und postinfektiöse Erschöpfung – sind nicht die Ursache, sondern nur die körperliche „Schiene“, auf der die zuvor als Herzrasen oder Nackenschmerz verkleidete Angst sich in chronische Müdigkeit verwandelt.
Die Patienten wehren sich mit Recht gegen die Diagnose „psychogen“, wenn diese nur zum Abschieben, Abwerten, Abspeisen mit Psychopharmaka dient. Sie sind ernsthaft krank, brauchen fachgerechte seelische Behandlung, die nicht zuletzt auch die gesellschaftlichen Angst-Viren benennt.
Literatur kann angefordert werden bei Dr. med. Mechthilde Kütemeyer, Psychosomatische Abteilung, St.-Agatha-Krankenhaus, 50735 Köln-Niehl
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