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Hilfe, die Russen kommen!

Ausstellung zur russischen Besatzungszeit im Prenzlauer Berg Museum eröffnet / „Kriegspfad“ führt quer durch den Stadtbezirk an elf Stationen  ■ Von Anja Nitzsche

Es war dunkel draußen, als die ersten Russen unser Haus betraten. Kurz danach kamen zwei von ihnen zu uns in den Keller. Ein Herr fragte einen nach Zigaretten, der Russe gab sie ihm auch bereitwillig. Als er sich die Zigarette angezündet hatte, hob der Russe die Pistole und verlangte ,Uhri‘, die der Mann ihm unter dem Druck auch geben mußte... Sie [suchten] sich fünf Frauen aus und gingen in eine der offenstehenden Parterrewohnungen und vergewaltigten sie.“

Berlin im Mai 1945, aus der Sicht eines Kindes. Als die Russen kamen, wurden sie von einigen jubelnd als Befreier begrüßt. Die meisten jedoch fürchteten sie als neue Unterdrücker. Ein Spannungsfeld, dem die jetzt eröffnete Ausstellung „Kriegspfad Berlin 1945. Moskauer Zeit in Prenzlauer Berg“ Rechnung tragen will. Ein engagiertes Projekt, von fünf BerlinerInnen im Alleingang aufgebaut. „Das bißchen Festhalten von eigener Geschichte hier ist das enzige, was wir in die neue Zeit mit einbringen können“, erklärt Grischa Meyer die persönliche Motivation, drei Jahre an dem Projekt mitzuarbeiten, ohne einen Pfennig dafür zu bekommen.

Über hundert Interviews mit älteren BerlinerInnen wurden geführt, der Prenzlauer Berg Stück für Stück nach Spuren der russischen Besatzungszeit abgegrast. Zum Projekt gehört auch ein sogenannter „Kriegspfad“, der quer durch den Stadtbezirk führt und an elf Stationen deutsche Kriegsgeschichte nachempfinden läßt. Von den InitiatorInnen wird ein zweistündiger Spaziergang, den Pfad entlang, angeboten. Das Prenzlauer Berg Museum mit seiner Ausstellung bildet den Ausgangspunkt. Auch dieser Ort wurde nicht zufällig gewählt. Vor 1945 als Horst-Wessel-Gedenkstätte genutzt, saß hier später die russische Kommandantur des Stadtbezirks.

Über der Tür haben die Austellungsmacher zwei Uhren angebracht. Eine läuft normal, die andere rückwärts. Daneben der Befehl Nr. 4 des Chefs der Besatzungsmacht, Generaloberst Bersarin, der besagt, ab dem 20. Mai 1945 sei in Berlin die Moskauer Zeit einzuführen. Dies wurde zwar nicht lange praktiziert, „aber letztendlich hielt sich die Moskauer Zeit bei uns über 40 Jahre lang“, sagt Annett Gröschner, Germanistin und eine der InitiatorInnen des Projekts.

Die Ausstellung will vor allem die Banalität des alltäglichen Lebens nach Kriegsende zeigen. Ein paar Seiten des Völkischen Beobachters, die als Schnittmuster verwendet wurden, eine Blechkanne zum Wasserholen und über allem thront das allgegenwärtige Stalin- Porträt. Über hundert Schulaufsätze, von einem Berliner Stadtschulrat 1946 in Auftrag gegeben, erzählen, wie die Kinder das Ende des Krieges und den Anbruch der neuen Zeit erlebt haben.

Herzstück der Ausstellung ist jedoch eine Installation im Kellergewölbe. Dunkel und stickig, wird der Besucher gleich nach Eintritt mit dem Ausmaß der Zerstörung Berlins konfrontiert. Eine Diaschau am Ende des Raumes zeigt zerbombte, ausgebrannte Häuser. Gegenübergestellt: Die gleichen Fassaden, jedoch unberührt. Bedrückend, denn die gezeigten Orte sind auch heute noch bekannt.

An den Wänden endlose weiße Fahnen und darauf, ganz kleingedruckt, die Adressen der Häuser, die während des Krieges fast vollständig zerstört wurden. Über 650 sind es, die aneinandergereiht, kommentarlos das Ausmaß des Elends beschreiben. Aber selbst hier wird deutlich, wie schwierig die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist. Denn in den gleichen Räumen pferchten die Russen in den ersten Jahren ihrer Besatzung mißliebige Personen zusammen.

Die Spurensuche ist noch nicht abgeschlossen. „Nur ein kleiner Anfang“, meint Grischa Meyer, „das Projekt wird in jedem Fall weitergeführt. Immer mehr Leute kommen zu uns, um ihre Geschichten loszuwerden. Und ich denke, es ist für uns auch ein Stück ausgleichender Gerechtigkeit. Bei der Diskussion über die jetzt abziehenden russischen Truppen und über benzinverseuchte Grundstücke, die sie hinterlassen, wird ganz vergessen, daß das hier 1945 kein jungfräuliches Gebiet war.“

Die Ausstellung ist Di 10-19 Uhr, Mi und Do 10-17 Uhr und So 13-17 Uhr geöffnet, ein Stadtspaziergang findet heute um 11 Uhr statt, Treffpunkt: Herz-Jesu-Kirche/Fehrbelliner Straße

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