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Unterm Strich

Schlimm sei weniger, daß der Sohn den Erzfeind des Vaters verleumde und ihm dadurch Böses angedeihen lasse in Gedanken, Worten und Werken, schlimm bis sündhaft sei vielmehr, daß „Turnvater Jens es sich gefallen läßt“, reimt und bibelt Wolf Biermann in der aktuellen Ausgabe des Spiegel anläßlich der Affaire Jens (junior, Tilmann heißt er wohl) vs. Reich-Ranicki. Bei den Vorwürfen, Reich-Ranicki sei Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes gewesen, so Biermann weiter, handle es sich um „stinkende Eier und faule Tomaten von vor 40 Jahren“, lesbar allenfalls gegen den Strich – als „Fallstudie eines mißglückten Sohnes“. Nun begab es sich allerdings just am vergangenen Samstag, daß die polnische Zeitung Zyciewarszawy die Fotokopie einer Seite aus einem angeblich etwa 1.100 Seiten umfassenden Verzeichnis der Mitarbeiter des polnischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit (MBP) veröffentlichte. Und auf Seite 995 dieser aus den Archiven des Innenministeriums stammenden Liste wird auch ein am 2. Juni 1920 geborener Marceli Reich mit dem Dienstgrad eines Hauptmanns genannt. Das Dokument sagt zwar nichts über Reich-Ranickis konkrete Handlungen aus, steht aber doch im diametralen Gegensatz zu Reich-Ranickis Aussagen, der gerade seine Mitgliedschaft beim Geheimdienst in den letzten Wochen aufs energischste bestritten hatte. Dem Dokument zufolge trat Reich-Ranicki am 25. Oktober 1944 als Zensor in den Dienst ein, leitete vom 5. Februar bis zum 25. März 1945 eine „Operationsgruppe“ in Kattowitz und kehrte anschließend zur Zensur zurück. Am 17. Juli 1947, vor seiner Ernennung zum Konsul in London, sei er Leiter der britischen Sektion der Auslandsaufklärung geworden. 1955 wurde er aus dem Sicherheitsdienst entlassen, ohne daß Gründe dafür aus den Unterlagen hervorgehen. Original oder Fälschung – das ist natürlich jetzt die Frage. Der Leiter der Deutschland-Abteilung des Instituts für Politische Studien, Pan Jerzy Holzer, der 1990 Zugang zu den Archiven des Ministeriums für öffentliche Sicherheit hatte, drückte sich dpa gegenüber diplomatisch aus: Das Dokument scheine echt zu sein.

Oh Wunderwelt des Alternativen! Stell dir vor, in Saarbrücken wird die Welt gerettet, und keiner hat's gemerkt – noch nicht mal die arme Welt selber! Doch von solchen kleinen Versagungen lassen sich die Organisatoren des „3. Festivals zur Rettung der Welt bei vollem Lustausgleich“ nicht kirre machen. Auch diesen Sommer wird es wieder ein Programm „von Actionpainting bis Gemüsesuppe, von Kräuterführung über Theater zum Mitmachen bis zu politischen Diskursen und esoterischen Ritualen sowie wissenschaftlichen Vorträgen, Kinderworkshops, Performanceacts, Tai Chi, Speaker's Corner, Malaktionen und Musik aller Sparten“ geben. Während es in vergangenen Jahren noch kleinere Mißlichkeiten gab

und „z.B. die Sanitäranlagen versperrt und Scherben im Pavillon-Brunnen nicht beseitigt worden“ waren, haben die diesjährigen Teilnehmer gut retten: Für „reibungslosen Ablauf“ ist gesorgt. Ort: Bürgerpark Saarbrücken, Zeit: 19. Juni ab 10 Uhr. Rettungsringe mitbringen!

In Berlin gibt es derzeit alle naslang Verabschiedungsfeierlichkeiten für die Alliierten. Am Samstag luden beispielsweise die sowjetischen Truppen zum Fest auf ihr Kasernengelände in Wünsdorf, 30 Kilometer südlich von Berlin, wo zeitweise 70.000 Soldaten lebten, das 40 Jahre lang von Deutschen nicht betreten werden durfte und die Anwohner der umliegenden Gemeinden zu erheblichen Umwegen zwang. In der Berliner Waldbühne gab es am gleichen Abend ein Konzert mit doppelt gutem Zweck: mit drei internationalen Chören und dem Weltsymphonieorchester, einer internationalen Orchestermusikerauswahl, kam Guiseppe Verdis „Requiem“ zur Freiluft-Aufführung: als Abschiedsgeste an die Alliierten eben und als Spendeninitiative für ein „Anti-Landminen- Projekt“ der veranstaltenden „Internationalen Ärzte zur Verhinderung des Atomkriegs“ (IPPNW) und der UNO. Um den feierlichen und zugleich politischen Aspekt der Veranstaltung angemessen zu unterstreichen, bekamen die (zahlreichen) Besucher schon am Eingang eine Kerze in die Hand gedrückt, die in der Dämmerung die kollektive Eintracht flackernd versinnbildlichten. Jede Ähnlichkeit mit Rockkonzerten und Lichterketten ist jedoch rein zufällig.

Und Kultur ist doch Überbau im Marxschen Sinne! Seit Scharping Kanzler werden will, ist des Lobpreisens des Pfälzischen im allgemeinen und des „Kultursommers Rheinland Pfalz“ im besonderen kein Ende. Ständig neue Broschürlein, in den das „Singende Rheinland-Pfalz“ beworben oder mit wohlgesetzten Worten etwa auf die Reihe „Jazz & Kunst in Weingütern“ aufmerksam gemacht wird: „Fetziger Jazz und süffiger Wein in herrlicher Umgebung – das ist die richtige Mischung für einen Kultursommer...“ Unsere Rede schon immer gewesen, denn, da hat die vorwortende Pfälzer Bildungsministerin Rose Götte voll recht: „Kaum eine Musik ist kommunikationsfördernder als der Jazz.“ Aber es kommt noch besser mit dem Lob des Pfälzischen: „Ambiente, Rhythmus, Wein und Schmaus sind vier Töne eines Akkordes, der die Schwingungen dieser Landschaft aufnimmt.“ Derart warmgedichtet, rauscht Götte dann fortissimo ins Finale: „Allen Freunden des Jazz wünsche ich fröhliche Stunden, einen leckeren Schmaus zum deftigen Blues [???], ein Glas schäumenden Sektes zum prickelnden Swing und gute Unterhaltung beim fröhlichen Dixieland.“ Wir hier aber warnen gerade im Hinblick auf Scharping vor allzugroßer Toscanisierung der Provinz! Bei Lafontaine ist so was schon mal bös danebengegangen.

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