■ In Tunis geht heute die Konferenz der OAU zu Ende
: Afrika zwischen Traum und Alptraum

Vor dreißig Jahren gab es einen afrikanischen Traum namens Unabhängigkeit. Die freien Völker des lange geknechteten Kontinents würden in gemeinsamer Anstrengung Wohlstand und Glück aufbauen, geleitet von weisen Führern. Der Traum zerschellte, bevor er Wirklichkeit werden konnte. Die frisch in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten konnten den bereits gesetzten Strukturen nicht entkommen. Mehr schlecht als recht führten sie als Treuhänder eine kolonial inspirierte Verwaltung fort, die sich gegenüber Militärregimes und Einparteiendiktaturen als erstaunlich resistent erwies. Gerade die Träume waren der Schlüssel zum Scheitern. Diejenigen Herrscher Afrikas, die in der Unabhängigkeit sich weniger ihren eigenen Völkern als ihren früheren Herren gegenüber beweisen wollten, scheiterten still. Diejenigen, die die Träume wörtlich nahmen und im Alleingang neue Welten bauen wollten, scheiterten grandios. Ihre Träume wurden zu Alpträumen der übrigen. Und weil sie so grandios waren und ihre Kollegen so still, prägten sie für die Weltöffentlichkeit ein neues und doch sehr altes Afrikabild: Ein Kontinent des Elends, wo lauter verdammte Eingeborene leben.

Die Dämonen der Alpträume – „Kaiser“ Jean-Bedel Bokassa aus Zentralafrika oder Idi Amin Dada aus Uganda, um nur die bekanntesten zu nennen – haben heute in Ruanda Junge bekommen. 500.000 ermorderte Menschen in acht Wochen – das hat eine neue Dimension. Oder doch nicht? Ruanda in seinem Grauen bestätigt erst einmal alles, was der Durchschnittseuropäer von Afrika zu wissen meint: Die schlachten sich ab, wo sie nur können. Es bestätigt dieses Bild jedenfalls so lange, wie tatsächliche Strukturen und Interessen ausgeblendet werden. Das Morden geschah nicht einfach so. Die Herrscher in Ruanda bildeten eine Generation zum Töten aus. In Europa müßte man damit Erfahrung haben.

Die Dämonen von heute sitzen nicht mehr in afrikanischen Herrschersesseln. Der Präsidentenpalast von Ruanda steht leer. Die Mörder sind auf der Flucht, was sie am Morden nicht hindert. In Benaco in Tansania, gerade jenseits der Grenze zu Ruanda, haben sich zwischen einigen hunderttausend Flüchtlingen auch viele Mitglieder des ruandischen Mordapparats versteckt: Bürgermeister, die ihre Bürger zum Töten anstachelten; Milizionäre, die die Rache der Freunde ihrer Opfer fürchten. Ein Mini-Ruanda entsteht im Exil – auf dem Sprung zur Revanche, sollte die feindliche Guerillafront RPF in Ruanda siegen. Große Diktatoren im herkömmlichen Sinne anerkannter Despoten über ein ansehnliches Staatsvolk gibt es in Afrika nicht mehr, sondern nur noch verborgene, deren Macht nicht mehr mit den Kategorien der alten kolonialen politischen Institutionen zu fassen ist. Weder Angolas Jonas Savimbi noch Somalias Farah Aidid haben es nötig, richtige Regierungen zu bilden und sich damit zahllosen diplomatischen Erniedrigungen auszusetzen. Herrschen oder zu herrschen versuchen können sie auch so. Savimbi, der angolanische Rebellenführer, hat kein politisches Amt – aber er ist einer der mächtigsten Menschen im südlichen Afrika. Er kontrolliert den Großteil Angolas samt reichen Diamantenminen, und nebenan in Zaire regiert sein Freund Mobutu über ein Land, in dem die Bezeichnung „Staat“ mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen ist. Mobutu und Savimbi sind reich genug, um sich selbst genug zu sein. Was mit ihren Völkern passiert – darüber darf sich die Weltgemeinschaft den Kopf zerbrechen.

Aber Afrika ist nicht nur der Kontinent der Alpträume. Seit Nelson Mandela Präsident Südafrikas ist, darf auch wieder geträumt werden in Afrika. „Madiba“ Mandela strahlt ein längst vergessenes Bild aus: der zuversichtliche Blick nach vorn. Die alten Parolen bekommen wieder einen Sinn: ein Land, das sein Schicksal selbst in die Hand nimmt; ein Volk, das den aufrechten Gang lernt. Südafrikas Held bietet seinen afrikanischen Kollegen eine leuchtende Zukunft und zugleich den Abglanz ihres eigenen Versagens. Denn je deutlicher wird, daß die Zeit des Absterbens der ererbten Institutionen in Afrika gekommen ist, desto bemerkenswerter bleibt jeder Schritt der gelungenen Versöhnung von Weiß und Schwarz, Alt und Neu am Kap.

„Südafrika ist unser Traum, Ruanda unser Alptraum“, sagte vor kurzem Wole Soyinka, Schriftsteller und Nobelpreisträger aus Nigeria. In Tunis, bei der heute zu Ende gehenden jährlichen Präsidentengala der afrikanischen Staatschefs namens „Organisation für Afrikanische Einheit“ (OAU), sprach der Südafrikaner Mandela auch über Ruanda. Ruandas Herrscher hätten versagt, erklärte er – ein nur scheinbar banaler Spruch. Wird nicht sonst vor allem die UNO des Versagens bezichtigt, ganz als ob Mordgelüste bei Ruandern normal wären und diese atavistischen Passionen allein die UNO eindämmen könnte? Und zeigt nicht gerade die südafrikanische Erfahrung, daß zwischen einem Schuldvorwurf und dem Vorwurf des Versagens Welten liegen können – daß ersterer den Weg zum Krieg weist und letzterer den zur Zusammenarbeit?

Doch der versteckte Hinweis auf Versöhnung als Bedingung dafür, den Weg von Alptraum zurück zum Traum zu finden, verhallt vermutlich folgenlos, obwohl er weniger an die Ruander als an die Nachsicht der Welt appelliert. Denn Ruanda ist in den letzten Monaten im Weltbewußtsein beständig gewachsen, es hat Afrika schon fast überschattet. Ruanda – das ist ein Afrika, in dem alle als schuldig gelten. Das postkoloniale Afrika – das Afrika, das sich vor allem in der Rolle des moralischen Gläubigers gegenüber dem Rest der Welt verstand – ist tot. Ruanda steht für eine Zeitenwende, die sich schon seit einigen Jahren andeutete: Afrikas Herrscher können nicht mehr wie früher einfach bei der weißen Welt ihr vermeintliches Recht einklagen. Sie sind zu Bittstellern geworden, die um Gnade winseln: Gebt mir Wirtschaftshilfe und Schuldenerlaß! Gebt mir UNO-Truppen und Wahlbeobachter! Sonst werden auch wir zu Mordbrennern. Daß Ruanda das alles schon hatte – Wirtschaftshilfe, UNO-Truppen – macht die Sache nur noch erniedrigender. Wer wird einem Mobutu oder einem nigerianischen General jetzt noch helfen wollen, außer aus dem einen Grund: „Schlimmeres“ zu vermeiden?

Es mag da nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die ganz alten Zeiten zurückkehren, die Zeiten von „Schutztruppen“ und „Expeditionen“ und „Protektoraten“, die ja auch alle „Schlimmeres“ verhindern wollten. So geradlinig verläuft aber die Geschichte zumeist nur dann, wenn man die Träume und die Alpträume mit der gesamten Wirklichkeit verwechselt. Südafrika und Ruanda stehen nicht für die Realität eines Kontinents, sondern für eine Hoffnung und eine Angst. Dazwischen liegt Afrika – ein Afrika des täglichen Überlebens unter widrigen Umständen, das im Kleinen seine Probleme immer weniger nach draußen trägt und sie vielleicht gerade daher zu lösen beginnt. Dominic Johnson