: Risikogruppe Eltern
■ Gefährdet: der promiske und ängstliche Schwule mit homophoben Eltern
Eltern sind lebensgefährlich. „Aus biographischer und sozialepidemologischer Sicht muß man sie zu einer Risikogruppe für homosexuelle Männer zählen“. Das haben die Bremer Soziologen Jörg Hutter und Volker Koch in ihrer Untersuchung über „Homosexuelle Männer und Aids – die tödliche Wirkung eines gesellschaftlichen Stigmas“ herausgefunden. Die Grundlagen für die Bewältigung von Diskriminierung und der Erfahrung des „Andersseins“ werden bereits in der Familie gelegt: „Die Art und Weise, wie die betreffenden Männer das Stigma bewältigen, hängt entscheidend von den Eltern ab“. Mit anderen Worten: Der promiske, ängstliche und versteckt lebende Schwule mit homophoben Eltern lebt gefährlich.
Fast jeder der 110 von den beiden Wissenschaftlern befragten schwulen Männer gab an, schon mindestens einmal unsafen Sex mit einem HIV-Positiven gehabt zu haben. Dabei hatten sich nur 37 Prozent der Interviewten infiziert – und zwar fast ausschließlich diejenigen, die mit der Bewältigung des „gesellschaftlichen Stigmas Homosexualität“ nicht klar kamen. Vom Virus verschont blieben Männer, die gelernt hatten, bewußt mit dem Stigma umzugehen.
Finanziert wurde die Bremer Studie vom Bundesministerium für Forschung und Technologie im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Aids-Forschung. Am Anfang stand eigentlich die Idee, die Verbreitung des HIV in Nord- und Südeuropa zu vergleichen, erinnert sich Jörg Hutter. Doch das Ministerium befand das Projekt als zu umfangreich und damit zu teuer. Hutter und Scholz, beide wissenschaftliche Mitarbeiter des Fachbereichs Soziologie an der Uni Bremen, änderten daraufhin die Fragestellung und beschränkten sich mit ihren qualitativen Interviews auf den norddeutschen Raum.
Hutter und Scholz fanden einen Zusammenhang zwischen der „Bewältigung des Stigmas und der Organisation der Sexualität“, zwischen den Reaktionen der Umgebung auf Schwule und deren HIV-Infektion. Dieser Zusammenhang erklärt laut Hutter das Ausbleiben des vielbeschworenen Ausbruches des HIV in die heterosexuelle „Allgemeinbevölkerung“: Trotz umfangreicher Präventionsbemühungen der Aids-Hilfe und anderer Organisationen und des hohen Kenntnisstandes über Safer Sex in der Szene pendelt der Anteil schwuler Männer an den Neuerkrankungen schon seit Jahren bei rund zwei Dritteln. Deshalb lautet Jörg Hutters Forderung: „Aids ist endlich als schwules Problem zu begreifen“.
Die beiden Wissenschaftler wenden sich mit den Ergebnissen ihrer Studie gegen die Propagierung des Safer Sex und den Appell an die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen als alleinige Reaktion auf Aids. Hutter: „Wir können unzählige hübsche Plakate drucken. Das ist alles Banane, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Homosexuelle nicht geändert werden“.
Würde jedoch „schwule Selbstorganisation gestärkt“ und eine „strukturelle Prävention“ als Ergänzung der individuellen Vorsorge schwule Lebensformen „auch öffentlich als lebenswert darstellen“, könnte die Infektionsanfälligkeit schwuler Männer gesenkt werden.
Die Vorab-Informationen über die Ergebnisse der Studie, die im August veröffentlicht wird, stießen auch bei den Schwulen bislang auf „Ignoranz oder Ablehnung“, berichtet Jörg Hutter. Ihn wundert's nicht – schließlich „ignoriert die deutsche Schwulenbewegung bis heute die Dimension der Aids-Epidemie. Es hapert an der Einsicht, Aids als ureigenstes Politikfeld für Schwule anzuerkennen“.
Diskussionen über schwule Lebensformen seien, so Hutter weiter, in der Debatte über Aids verpönt, seit der kalifornische Molekularbiologe Peter Duesberg in einer wirren Mischung aus soziologischen und medizinischen Erkenntnissen propagierte, nicht HIV sei die Ursache für Aids, sondern der Lebensstil des Einzelnen. „Dabei geht es in unserer Untersuchung weniger um Promiskuität als darum, wie sie gelebt wird“, sagt Hutter.
Für Unmut sorgte auch die Vorgehensweise der Soziologen: Hutter und Scholz hatten die Befragten aufgrund ihres Lebensstils und der „Organisation ihrer Sexualität“ fünf Typen zugeordnet. „Typ B“, ein Klappengänger und Bewegungsschwuler, der dem anonymen Sex aus vermeintlich politischen Gründen frönt, ohne ihn wirklich zu wollen, ist zum Beispiel enorm infektionsgefährdet.
Fast infektionsfrei dagegen sind die Männer vom „Typ C“ und „Typ D“: Letztere leben ihr Schwulsein „kontrolliert-defensiv“, outen sich dann und wann, pflegen ein intaktes Verhältnis zu den Eltern und „betten ihre Sexualität in personale, emotionale Bindungen ein“. Einen munter-promisken, selbstbewußten und fröhlich-offensiven Bewegungshomo jedoch konnten die Soziologen nicht finden.
Jens Breder
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen