: Am anderen Moldau-Ufer
Die tschechische Homo-Szene befreit sich vom Erbe des Kommunismus
Prag (taz) – Die Uhr ist abgelaufen. Sagt Frau Slavka. Ihre Uhr. Es gebe nur noch einen Ort. „U Dubu“ – Zur Eiche. Hier ist die Vergangenheit noch präsent. Hier sind die Gardinen vergilbt. Hier hängt der Staub wie Rauhreif an den Trockengestecken. Bunte Blümchendecken zieren holzgewurmte Tische. Die vier Jahreszeiten hängen seit Jahren an der Wand, naive Malerei. Individuelle Ästhetik hat der Sozialismus untersagt. Wie das Interieur sind die Gäste in Prags Club der Altschwulen. Sie kennen Frau Slavka, Frau Slavka kennt sie. Früher humpelte die hutzelige Pensionärin aus privatem Interesse durchs „U Dubu“. Heute verkauft sie die SOHO-Revue, die schwule Monatszeitschrift. Das bringt ein paar Kronen. Die neue Welt, sagt Frau Slavka, sei ihr nicht geheuer. Manchmal verirren sich Avantgarde-Schwule von dort ins „U Dubu“. Sie frozeln. „Hroby se otviraji“, sagen sie, wenn ein Alter eintritt. „Gräber öffnen sich.“
Die neue Welt. Beispiel Mercury- Club: eine innenarchitektonische Komposition aus stahlblauen Wänden, grauen Ledersofas und Spiegeln. Es ist zwei Uhr nachts. Die Schönen der Moldaumetropole bitten zum Tanz. „Baby don't hurt me“ donnert es aus den Boxen. Eine kleine Düse unter dem Diskjockeytisch speit Nebel dazu. Auch hier sind die Alten willkommen. Aber nur die aus dem Westen, bitte. Prag zählte in den ersten drei Monaten dieses Jahres 9 Millionen Touristen, davon 6 Millionen aus Deutschland. Nicht nur der Geist der Gotik und die ekstatischen Künstler auf der Karlsbrücke locken: Schon für umgerechnet 30 Mark nehmen Ost-Buben aus dem Mercury einen reichen West-Bruder zwischen Arme und Beine. So finanziert man sich das Outfit: die 501 und die Markenturnschuhe. Prag ist wie Bangkok, bloß näher.
„Ich mach's für Geld“, sagt Josef Kral, „aber vornehmlich im Hotel Atrium.“ Die Luxusherberge sei ein idealer Ort für Geschäfte mit Geschäftsreisenden. Bis zu 500 Mark kassiert er pro Nacht. Kral heißt zu deutsch König. „Ich bin eine Königin“, sagt Josef. Sein eigentlicher Beruf: Frau. Deshalb hat er seine Männlichkeit in einen kurzen schwarzen Lederrock, Bluse und Pömps gepackt. Die tschechische Tagespresse hat den Lockenkopf bereits als den Transvestiten der Republik porträtiert. Josef lebt mit seinen Adoptiveltern zusammen. Die Wohnung finanziert er durchs Anschaffen. Und seine Oma schüttelt schmunzelnd den Kopf, wenn er abends seine Strapse anlegt. Vieles von dem war in den Zeitungen zu lesen. „Ich bekam anonyme Anrufe“, sagt Josef, „und selbst Taxifahrer haben mich angegriffen.“ Die Tschechische Republik möchte er bald verlassen.
Wenige Schwule bekennen sich öffentlich. Denn Kirche und Kommunismus haben die TschechInnen versaut. Homosexuelle, heißt es, sind geistig krank. Vor 1961 waren lesbische und schwule Schäferstündchen wie heut noch in Rumänien völlig verboten. Bis vor gut zwei Jahren führten Prager Polizisten noch „rosa Listen“, auf denen ertappte Schwule registriert wurden. Inzwischen ist die Altersgrenze von 18 Jahren heruntergesetzt: Ab dem 15. Lebensjahr können Jungs und Mädels selbst entscheiden, in wen sie sich verlieben, mit wem sie „legal“ schlafen. Derartige Erfolge hat die „Bewegung für homosexuelle Bürger in der Tschechischen Republik“ (SOHO) bewirkt. Allerdings läßt die politische Schwulenarbeit des selbsternannten Präsidenten der SOHO, Jiri Hromada, stark nach. Der ehemalige Schauspieler bekommt von der Regierung monatlich etwa 20.000 Kronen für seine Gazette – für Aids-Aufklärung. Und wird ihr derartig hörig, daß Prags Schwule nur noch den Kopf schütteln. Gewisse Themen ignoriert Hromada. Den mysteriösen Tod des Journalisten Stanislav Valek zum Beispiel, der Zeitungsberichten zufolge ein Verhältnis mit dem heutigen Ministerpräsidenten der CR, Vaclav Klaus, hatte. Valek wurde in seiner Wohnung grausam abgeschlachtet.
Dafür empfindet er es als schwule Revolution, wenn die zwei einschlägigen Filme der CR im Abendprogramm zu sehen sind. Die Streifen sind mediokre Ereignisse: „Pravo na lasku“ (Recht auf Liebe) ist ein semipeinliches Promi-Outing, in dem sich etwa der Fotograf Robert Vano und der Maler Lukas Pricina zu Wort melden. Schlimmer kommt die Dokumentation „Zapovezena lasku“ daher. Sie zeigt der Bevölkerung: Ein Schwuler ist ein entstellter Anonymus, ein abgedrehter Vogel, der Sex nur auf der Klappe und im Park sucht. Kein Kommentar, daß der Kommunismus offizielle Treffpunkte für Schwule und Lesben nicht zuließ. Zwar gab es in den verwinkelten Gassen der hunderttürmigen Stadt zwei Kellerkneipen wie die „T-Bar“. Vornehmlich mußten jedoch der Letna-Park und das Podoli-Bad als Kontaktbörsen herhalten.
Im „Podoli“ geht es heute noch heiß her: Jeden Sonntag treffen sich Prags Schwule ab 17 Uhr unter den Duschen und im Dampfbad. Sex gibt es nicht. Auch Heteros stehen dicht an dicht in der schweißigen Luft und seifen ihre Körper ein. „Die Atmosphäre ist prickelnd. Ein Fest fürs Auge“, sagt der 23jährige Tänzer Martin Pesek, „und noch ist das Podoli nicht in der Hand der Touristen.“ Andererseits habe er „nichts gegen einen Westschwanz“. Derart charmantes Gemisch aus Zuneigung und Ablehnung paßt eher ins alte Prag. „Es ist eine Stadt der Sonderlinge, die eigenwillige Wünsche haben“, schrieb einst Oskar Wiener, „und einen stets wachen Trieb für das Verworrene.“
Heute sind die Wünsche einfältig. Ivo Stehlik träumt vom Reichtum. Der 22jährige Geschäftsmann hat gerade das „Gay Information Centre“ in der Krakovska 3 eröffnet. Ivo sprudelt vor Ideen. Er vermittelt Unterkünfte und Begleitungen in der Stadt, versucht sich in Immobilien, organisiert Sportturniere, vertreibt Zeitschriften und Bücher. In einem geräumigen Souterrain errichtet er gerade ein Tagescafé. Inspiriert hat ihn der einjährige Aufenthalt in Berlin. „Das schwule Leben in Prag“, sagt er, „muß endlich öffentlich werden. Die Leute hier sind intolerant und schauen nur grießgrämig aus der Wäsche. Sie sollen wissen, daß Homosexuelle normale Menschen wie du und ich sind.“ Obendrein möchte er die Aids-Aufklärung unterstützen. Auch in dieser Hinsicht habe ihn das Leben in Berlin sensibilisiert.
Die neue Welt. Knapp 170 HIV- Positive zählt die tschechische Gesundheitsstatistik. Im Prager Aids- Zentrum geht man davon aus, daß die Zahl steigen wird. Was nicht verwundert: Kondome gelten als Symbol für Antisex. In der Tschechischen Republik werden jährlich 8 Millionen Präser verkauft. Pi mal Daumen heißt das: Jeder Bürger und jede Bürgerin schützen sich in 52 Wochen durchschnittlich etwa einmal. Auch vielen der gerade mal 14jährigen Stricher geht es wie Frau Slavka: Ihre Uhr ist abgelaufen. Tomas Niederberghaus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen