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„Wie schreibt man Baden-Württemberg“

Oder wie macht man eigentlich eine homosexuelle Tageszeitung? Ein Bericht aus streng heterosexueller Sicht  ■ Von Martin Muser

10.15 Uhr. Der Konferenzraum füllt sich. Das also sind sie, die Lesben und Schwulen, die heute taz machen werden. Irgendwie alle ganz adrett, eigentlich richtig normal. Wenn das die „Perversen“ sein sollen, von denen mein Mathelehrer immer gesprochen hat, dann sind sie äußerlich jedenfalls nicht als solche zu erkennen. Die Begrüßungsworte klingen vertraut: „Schön, daß so viele von euch gekommen sind.“

10.20 Uhr. Wohlerzogen läßt man eine gutgemeinte Vorstellungsrunde über sich ergehen. Ich werde als heterosexueller Spion geoutet. Interessierte Blicke. Täusche ich mich, oder schlägt mir da eine Welle des Mitgefühls entgegen? Zaghaft kommt die Maschinerie „tageszeitung“ in Gang. Eine Rohfassung des programmatischen Seite 1-Essays macht die Runde. Allgemeine Lesepause. Der Auftakt verschleppt sich.

Der Text findet freundlich- wohlwollend Zustimmung. Ist der kleinste gemeinsame Nenner schon gefunden? Die Autorin sitzt unter uns. Diplomatie ist angesagt. Tom Kuppinger findet den Text „zu wenig kämpferisch“. Jan Feddersen springt in die Bresche, das Ganze sei doch „angenehm nüchtern“. Eine andere Frage tut sich auf: Wissen die Heteros draußen eigentlich, was ein „KV“ ist? Ich weiß es auch nicht, trau' mich aber nicht zu fragen.

10.30 Uhr. Die Seite 1 ist durch. Die Fleißarbeit der Ressorts wird referiert. Ein Gutteil der Seiten ist längst vorproduziert. Eine Konzession an das erwartete Chaos. Aber nicht alle Tretminen sind bereits entschärft. Die Vorsitzende des Lesbenrings, Jutta Oesterle-Schwerin, hat einen programmatischen Text angeboten, den Elmar Kraushaar, in der Vorbereitungsgruppe zuständig für die Meinung, ablehnen will. Er hat zum gleichen Thema einen Alternativtext organisiert. Aber der Mann ist heute krank – das Feld also offen für eine Debatte. Soll ein Text ins Blatt, der die Aufkündigung der schwul-lesbischen Zusammenarbeit fordert? Empfindlichkeiten werden deutlich. Die Lesben fordern von ihren männlichen Kollegen mehr Sensibilität ein. Es bilden sich Lager: Gerade weil Juttas Position strittig ist, müsse man den Text drucken, sagen die einen. „Zu schlecht geschrieben“, urteilen die anderen.

11.45 Uhr. Die Konferenz ist zu Ende. Viel zu spät, wie die Technik voller Sorge anmeldet. Die Gäste zerstreuen sich. Durch das Treppenhaus irren einzelne Gestalten. „Ist das hier der dritte Stock?“ Ein Gastredakteur kommt mit rudernden Armen auf mich zu und fragt, ob ich „seinen Text“ gesehen habe. Ich denke, er wird sich damit abfinden müssen, daß das gute Stück unwiderbringlich verschollen ist, sage es ihm aber nicht. Ein junger Herr mit Kurzhaarschnitt tippt verzagt die ersten Worte in einen der Computer. „Wo muß ich drücken, wenn ich löschen will?“ Eine Hausangestellte verhindert das Schlimmste und gibt in stehender Rede einen Grundkurs in EDV. Wann um Himmels willen ist eigentlich Redaktionsschluß?

12.30 Uhr. Unter der Oberfläche des gepflegten Chaos kocht es. Ein Fall von Zensur: Der Beitrag von Monika Treut wird von der Chefredaktion abgelehnt. Die Filmemacherin hatte die Frage „Was erregt Sie am meisten?“ mit der Phantasie einer SM-Orgie beantwortet. An Stelle des Textes soll nun ein leerer Kasten mit dem Hinweis auf die Zensur stehen. Index on Censorship?

Die Meinungsredaktion hat sich derweil auf ihre Redaktionshoheit besonnen. Nach langen Disputen entschließt sie sich, beide Artikel ins Blatt zu nehmen. Juttas Beitrag und den Alternativtext. Aber beide gleich lang? Zeilen werden gezählt. Inge von Bönnighausen hat ihre farbige Lederjacke noch immer nicht abgelegt. Heftig an ihrer Zigarette saugend, erläutert sie ihre Kürzungsvorschläge.

Melitta Poppe, heute verantwortlich für die Wahrheit-Seite, kann die Wahrheit unterdessen kaum glauben. Ihre schöne Seitenidee wurde von der Technik kurzerhand dem einheitlichen Fotokonzept geopfert. Nun ist ein Loch auf der Wahrheit. Melitta ist entschlossen, der Wahrheit jetzt mal die Wahrheit zu sagen: Sie schreibt an einer Grundsatzerklärung.

Nur die taz-Repro ist nach wie vor gelassen. „Bloß weil wir hier lauter solche Bilder gekriegt haben, werden wir noch lange nicht schwul“, läßt sich einer vernehmen. Glücklich, wer sich seiner sexuellen Identität so sicher ist.

13.45 Uhr. Das Homo-taz-Organisationsteam schifft langsam am Rande des Nervenzusammenbruchs entlang: Hans Hermann Kotte kämpft gegen imaginäre „Gurkentruppen“, Dorothee Winden ringt um Contenance, Klaudia Brunst (heute ohne Hund) wird verzweifelt gesucht. Gerüchten zufolge verteilt sie Gratis-Essensmarken für die Blumhagensche taz-Kantine. Ausgerechnet die Seite1-Leute verschwinden als erste zum Mittagstisch. Sie haben ihren Text schon jetzt erfolgreich von 280 auf 190 Zeilen eingedampft. Ab in die Garküche. Aus der Inland-Redaktion kommt ein herzzerreißender Schrei: „Wie schreibt man Baden-Württemberg?“ Wieder was dazugelernt: auch Homos sind Legastheniker.

15.00 Uhr. In der Ausland-Redaktion diktieren sich Herren mit gut gebräunten Brüsten (Mehrzahl von männlicher Brust?) unter den geöffneten Hemden gegenseitig Texte in die Maschine. Immer noch unklar ist, was mit der Titelseite passieren wird. Die Idee, sie mit Federboa und Doppelaxt zu schmücken, fanden nicht alle gut. „Klischeehafte Symbolik“, sagen etliche Textredakteure, „lustig, auffällig und bunt“, meinen andere. Der Entwurf ist trotz intensiver Nachforschungen nicht mehr auffindbar. Haben subversive Kräfte hier eine Auseinandersetzung verhindern wollen? Aber außer mir hat sowieso niemand mehr Zeit, sich jetzt noch mit solchen Petitessen rumzuschlagen. Die Zeitung muß fertig werden.

16.15 Uhr. Die Korrektur wartet nun auch auf meinen Text. Ich muß Schluß machen. Auf dem Weg in den vierten Stock höre ich den heute schon so oft gehörten Stoßseufzer: „Ab morgen bin ich hetero.“ Gefolgt von der resignativen Einsicht „... aber hetero macht auch nicht froh.“ Das kann ich nur bestätigen.

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